Meine Meinung

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat eine Entwicklung ein wenig in den Hintergrund gerückt, die das Wirtschafts- und Börsengeschehen in den kommenden Jahren entscheidend prägen wird: Den sprunghaften Anstieg der Inflation, der schon lange vor den kriegsbedingten Preissteigerungen nahezu alle Länder erfasst hatte. Die Maßnahmen gegen Russland, vor allem Sanktionen und Boykotte, haben diesen Trend jedoch erheblich verstärkt und noch gefährlicher werden lassen.

Bis in die 1980er Jahre hinein gab es einen häufig zitierten Spruch, der zunehmend in Vergessenheit geraten war, jetzt aber wieder hochaktuell ist: „Wenn man der Inflation den kleinen Finger reicht, ergreift sie gleich die ganze Hand“. Leider haben Notenbanker und Politiker diese aus jahrzehntelangen schmerzhaften Erfahrungen gewonnene Erkenntnis vergessen, verdrängt oder gar als Unsinn abgetan. Sonst hätten sie spätestens vor einem Jahr auf die ersten Anzeichen einer Inflation reagieren müssen, als die Teuerung in den USA erstmals seit über 12 Jahren wieder die 4-Prozent-Marke überwunden hat und auch in Europa die Preise anzuziehen begannen. So aber stecken wir mitten im stärksten Preisanstieg seit vielen Jahrzehnten. Um 7,9 Prozent war das Leben in den USA im Februar teurer als vor einem Jahr, in Deutschland im März um 7,3 Prozent – die höchste Inflationsrate seit über 40 Jahren.

Ein Desaster für Zinsanleger

Für Zinsanleger ist das eine verheerende Entwicklung. Sie müssen zuschauen, wie ihre Ersparnisse von Tag zu Tag an Kaufkraft verlieren. Bei Null- und Negativzinsen für Bankeinlagen und kurzfristige Staatsanleihen schmilzt das Vermögen real, also nach Abzug der Teuerungsrate, in einem Wahnsinnstempo.

Mit 10 000 Euro Vermögen erhält man jetzt im Durchschnitt für über 700 Euro weniger Güter und Dienstleistungen als vor einem Jahr, also nur noch für 9300 Euro. Wenn das einige Jahre so weiter geht, erleben Zinsanlagen – wozu indirekt auch die meisten Versicherungs- und Altersvorsorge-Verträge zählen – ein finanzielles Desaster, die schon lange währende kalte Enteignung der Ersparnisse wird zur heißen.

Mit den Folgen des Ukraine-Kriegs, insbesondere bei Energie und Rohstoffen, hat die Inflation inzwischen nicht nur die ganze Hand ergriffen, sondern gleich noch den Unterarm dazu. Die Notenbanken haben die Gefahren einer beginnenden Teuerung viel zu lange unterschätzt, weil sie erwartet hatten, die Inflation werde sich von selbst totlaufen. Aber das tat und tut sie nicht. Ganz im Gegenteil, sie beschleunigt sich. Noch sind nicht alle Preissteigerungen bei den Konsumenten angekommen. Der explosionsartige Anstieg auf der vorgelagerten Stufe der Produzentenpreise um 30,6 Prozent im Euroraum und 25,9 Prozent in Deutschland im Februar deutet darauf hin, dass die Inflationsspitze noch nicht erreicht ist.

Staatliche Hilfen setzen nicht an den Ursachen an

Da hilft auch das Entlastungspaket nicht wirklich, das die Bundesregierung beschlossen hat. Mit der zeitweisen Senkung der Steuern auf Kraftstoffe um 30 Cents je Liter und der Abschaffung der EEG-Umlage werden zwar die Auswirkungen der hohen Energiepreise teilweise gemildert, nicht aber die Ursachen der Preisschübe insgesamt. Die reichen schon weit über Öl, Gas und Strom hinaus und erfassen immer mehr Produktgruppen.

Inflation entsteht, so lautet eine Definition, wenn zu viel Geld zu wenige Güter jagt. Und hier kommen die Notenbanken ins Spiel, die in und nach der Finanzkrise von 2008/2009 und erneut in der Corona-Pandemie mit Anleihekäufen ungeheure Mengen an Geld in die Märkte gepumpt haben. Die Fed hat ihre Bilanzsumme seit Ende 2007 verzehnfacht – auf genau 9 Billionen Dollar, die EZB hat sie auf fast 8,7 Billionen Euro „nur“ versiebenfacht. Aber im Gegensatz zur Fed, die ihre Anleihekäufe im März beendet hat, kauft die EZB munter weiter, wenngleich weniger als bisher.

Die Zinswende ist in den USA vollzogen

Anders als die EZB hat die Fed die Zinswende bereits Mitte März eingeleitet und den Leitzins auf 0,25 bis 0,5 Prozent erhöht. Bis zum Jahresende wird laut FED-Protokoll ein Anstieg auf rund 2 Prozent erwartet.

Das wären noch sechs Zinsschritte, falls jedes Mal um 0,25 Punkte erhöht wird. Das klingt nach viel, ist aber angesichts einer Inflationsrate, die in den USA zeitweise auf die 10-Prozent-Marke zusteuern könnte, immer noch lächerlich wenig.

Im Gegensatz zur Fed sind die EZB-Lenker weiterhin der Meinung, dass sich die Inflation bald wieder deutlich zurückbilden wird. Der italienische Notenbankchef und EZB-Ratsmitglied Ignazio Visco hat erst vor einigen Tagen betont, dass die Inflationserwartungen im Euroraum bei rund 2 Prozent „gut verankert“ seien. Deshalb wolle die EZB bei ihrer Nullzinspolitik bleiben und mit Anleihekäufen zusätzliche Geld bereitstellen. Da frage ich mich schon, auf welcher Welt Herr Visco lebt und ob er weiß, wie er Italien von 6,7 Prozent Inflation im März wieder Richtung 2 Prozent bringen kann. Aber Preisstabilität ist der EZB schon seit der Euro-Schuldenkrise bei weitem nicht mehr so wichtig, als hochverschuldeten Staaten wie Italien den Konkurs zu ersparen. Der wäre bei positiven Realzinsen vermutlich unumgänglich. Die EZB ist leider zu einem Hilfstrupp der EU-Politik geworden.

Das habe ich schon immer befürchtet. Die Mitglieder der Währungsunion unterteilen sich in zwei Gruppen: Auf der einen Seite die stabilitätsorientierten Nordländer und auf der anderen die lockereren Südländer, die mehr Inflation hinnehmen.

Vielfältige Folgen für die Anleger

Was aber bedeuten die beängstigend schnell steigende Inflation und die Reaktionen der Notenbanken für Anleger und Kapitalmärkte? Bankeinlagen sind bei Zinsen um 0% ein gewaltiges reales Verlustgeschäft, wie ich ja schon gezeigt habe. Bei Anleihen sieht es noch schlimmer aus, insbesondere bei länger laufenden, die inzwischen immerhin wieder positive Renditen abwerfen. So bringen Bundesanleihen mit 10 Jahren Laufzeit, die noch vor gut drei Monaten minus 0,4 Prozent Rendite erzielt haben, inzwischen plus 0,6 Prozent.

Darüber können sich Bondanleger jedoch alles andere als freuen: Die neue 10jährige Bundesanleihe mit Laufzeit bis 2032, die Mitte Januar aufgelegt worden ist, hat den Käufern in knapp drei Monaten schon rund 7 Prozent Kursverlust, aber keine Zinsen „beschert“. Und die Kursrisiken sind enorm, weil jeder Renditeanstieg einen Kursrückgang der bestehenden Anleihen bedeutet – je länger die Laufzeit ist, umso stärker. Auch in anderen Ländern sind die Renditen steil geklettert – in den USA bei 10jährigen Staatsbonds seit Jahresbeginn von 1,5 auf 2,4 Prozent. An den Märkten spricht man von einem Ausverkauf.

Anleihen mit mittleren und längeren Laufzeiten sind nämlich von sicheren Häfen zu hochriskanten Wertpapieren geworden, von denen sich immer mehr Großanleger fast schon panikartig trennen, sprich verkaufen.

Unternehmensgewinne klettern deutlich

Das Geld, das sie damit erlösen, fließt zum Teil in Aktien. Denn sie gelten als bester Schutz gegen Inflation. Unternehmen können ihre höheren Kosten weitergeben und ihre Preise anheben. Und da in vielen Bereichen Knappheit herrscht, fallen die Preiserhöhungen zum Teil happig aus. Das lässt die Unternehmensgewinne sprudeln. Die 500 Gesellschaften des S&P 500 haben im vierten Quartal 2021 ihre Erträge um 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr steigern können – zu Beginn des Jahres lagen die Schätzungen noch bei plus 22 Prozent. In Europa sieht es noch besser aus: Anfang 2022 betrugen die Prognosen plus 48 Prozent, tatsächlich sind es 60 Prozent geworden. Das ist in meinen Augen der Hauptgrund dafür, dass sich die Börsen nach dem Kurseinbruch von Mitte Januar bis Anfang März inzwischen gut erholt haben. Und das trotz der vollzogenen Zinswende und angekündigter weiterer Schritte in den USA und den Verwerfungen und Unsicherheiten im Gefolge des Kriegs in der Ukraine.

Dividendenrenditen von über 4 Prozent locken

Besonders überraschend war, dass zahlreiche Unternehmen ihre Ausschüttungen für 2021 kräftig angehoben haben. Dadurch sind die Dividendenrenditen noch attraktiver geworden als zuvor. 14 der 40 DAX-Aktien, 12 der 50 MDAX-Werte und 15 der 50 SDAX-Mitglieder kommen aktuell auf Dividendenrenditen von mehr als 4 Prozent.

Das sind fürwahr Alternativen zu zinslosen Zinsanlagen, ob als Einzelaktien oder Dividenden-ETFs. Natürlich sind Dividenden nicht „fix“, sie können reduziert werden. Aber sie bilden einen gewissen Schutz vor Inflation und sie helfen, die Kurse zu stabilisieren. Besonders in unsicheren Zeiten, mit denen wir noch länger leben müssen. Der Ukraine-Krieg, die Inflation, die Zinserhöhungen in den USA und weitere Probleme durch die Corona-Pandemie werden dafür sorgen, dass die Konjunktur vorerst nicht auf die Beine kommt und die Aktienkurse stark schwanken. Aber die gute Gewinnentwicklung und vor allem die fehlenden Anlagealternativen sprechen für eine längerfristig recht positive Entwicklung an den Aktienmärkten.

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