Meine Meinung
Gottseidank ist es bald hinter uns, das schlimme und extrem turbulente Börsenjahr 2022. Es stand für uns Anleger ganz im Bann der immer schneller galoppierenden Inflation und der dadurch hervorgerufenen abrupten Wende der Zinspolitik der Notenbanken, insbesondere der amerikanischen Fed. Die Flurschäden, die diese beiden Ereignisse an den Aktienmärkten hinterlassen haben, sind gewaltig, am gewaltigsten bei den jahrelang enorm überbewerteten US-Technologiewerten. Der Nasdaq 100-Index verlor in den ersten 50 Wochen des Jahres fast ein Drittel an Wert, der Facebook-Konzern Meta Platforms, der einer seiner Stars war, sogar knapp 65 %. Da nehmen sich 20 % Minus des S&P 500 und 13 % Verlust des DAX fast schon bescheiden aus.

Inflation und Zinsen – das werden meines Erachtens zwar auch 2023 ganz gewichtige Börsenthemen bleiben, aber keine alle anderen überragenden mehr wie 2022,

als jede Inflationszahl und jede Äußerung eines Notenbankers von den Analysten auf die Goldwaage gelegt worden ist. Zuletzt haben wir das ja Mitte Dezember erlebt, als die Fed und die EZB auf ihren letzten Sitzungen des Jahres klar gemacht haben, dass es ein viel weiterer und steinigerer Weg bis zum Ende der Zinserhöhungen und einem Sieg über die Inflation ist, als es die Märkte in den Wochen zuvor gehofft hatten. Und diese „Warnungen“ haben das Augenmerk vermehrt auf die Konjunktur gerichtet, die vermutlich im Lauf des Jahres 2023 für die Börsen noch wichtiger wird als Inflation und Zinserhöhungen. Und das aus mehreren Gründen.

Blicken wir aber zunächst zurück: Die Weltwirtschaft hat sich, allen Unkenrufen zum Trotz, 2022 so gut gehalten, dass die Unternehmensgewinne kräftiger zulegen konnten als es lange Zeit erwartet worden war. Die Aktienrallye von Oktober bis Anfang Dezember ist zum Teil darauf zurückzuführen. Das Münchner ifo-Institut macht für den Ertragsboom auch die so genannte Gewinninflation verantwortlich. Viele Firmen nutzen die Teuerungsphase, um ihre Preise stärker anzuheben als ihre Kosten. Dass Unternehmen Preise erhöhen und ihre Gewinne dadurch verbessern können, ist ja auch der Hauptgrund dafür, dass Aktien, anders als Zinsanlagen, mittel- und langfristig Schutz vor der Inflation bieten.

Börsen müssen noch lange mit höheren Zinsen leben

Höhere Preise können Unternehmen natürlich bei guter Konjunktur leichter durchsetzen als bei einer schwachen. Bis vor kurzem waren die meisten Experten von einem kurzen und relativ moderaten Wirtschaftsabschwung ausgegangen. Aber diese Einschätzung hat sich mit den jüngsten Maßnahmen der Notenbanken geändert. Die Zinserhöhungen um jeweils einen halben Prozentpunkt von Fed und EZB waren zwar erwartet worden, nicht aber, dass die Zentralbanker nahezu jegliche Hoffnung auf ein baldiges Ende höherer Zinsen zerstört haben.

Zahlreiche Analysten hatten ja schon für den Herbst 2023 erste Zinssenkungen der Fed vorausgesagt – aber Fed-Chef Powell und EZB-Präsidentin Christine Lagarde haben diesem Optimismus einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.

Ablesbar ist das an der Rendite der 10jährigen Bundesanleihe, die innerhalb weniger Tage um einen halben Prozentpunkt auf 2,2 %nach oben geschnellt ist. Anleger rechnen also mit einem stärkeren Zinsanstieg als bislang. Vor allem die EZB hat Nachholbedarf, da ihr Leitzins mit 2,5 % nur gut halb so hoch ist wie der amerikanische, obwohl die Inflationsrate in Euroland mit 10,1 % zweistellig ist und in den USA „nur“ 7,1 % beträgt. Weiter steigende Zinsen aber werden die Konjunktur 2023 erheblich belasten.

Konjunktur reagiert mit Verspätung auf die straffere Geldpolitik

Ihre Hauptwucht entwickeln Zinsschritte in der Regel erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung von üblicherweise rund einem Jahr. Die vollen Auswirkungen der schnellsten und kräftigsten Zinserhöhungen der US-Notenbank Fed seit ihrem Bestehen – von null auf 4,5 % in neun Monaten – für die Konjunktur werden deshalb frühestens Anfang 2023 sichtbar werden. Die Folgen der EZB-Maßnahmen noch deutlich später. Wie stark die Zinserhöhungen das Wirtschaftswachstum bremsen werden, liegt ziemlich im Nebel, da es keinerlei Erfahrungen mit monetären Ausstiegsphasen nach einer so langen Phase extrem lockerer Geldpolitik gibt.

Die Notenbanken haben ja auch noch nie eine so gewaltige Geldflut geschaffen wie in den letzten Jahren. Deren Eindämmung dürfte zusätzliche Probleme verursachen. Fed und EZB haben seit dem Beginn der Corona-Pandemie ihre Bilanzsumme jeweils mehr als verdoppelt, indem sie riesige Summen an Staatsanleihen aufgekauft und den Regierungen so das Schuldenmachen leicht gemacht haben.

Die EZB hortet inzwischen für fünf Billionen Euro Anleihen. Diese gewaltige Summe will sie ab März reduzieren, aber nur gemächlich, weil sonst hochverschuldete Staaten wie Italien straucheln und eine neue Eurokrise auslösen könnten. Die Fed sitzt sogar auf Bonds im Wert von über 8 Billionen Dollar, baut diese Bestände aber immerhin um 95 Milliarden Dollar pro Monat ab.

Weniger Liquidität führt zum Kampf ums Kapital

Dieser Entzug an Liquidität wird den Wettstreit zwischen der Realwirtschaft, den Staaten und den Kapitalmärkten um das knapper werdende Geld verschärfen. Mit anderen Worten: Die Börsen werden nicht mehr so in Liquidität schwimmen wie in den letzten Jahren. Und das dürfte den Aktienmärkten zusetzen.

Die gute Nachricht für 2023 ist, dass die Inflation ihren Höhepunkt zumindest vorläufig erreicht hat oder ihm nahe ist. Die schlechte Nachricht lautet aber, dass sie deutlich höher bleiben wird als in den Jahrzehnten zuvor. Der Preisauftrieb auch ohne Energie und Nahrungsmittel ist stärker geworden.

Er sorgt inzwischen in nahezu allen Bereichen für einen Entzug von Kaufkraft bei den Verbrauchern, der 2023 den Konsum zunehmend belasten dürfte. Selbst EZB-Chefvolkwirt Philip Lane rechnet damit, dass die so genannten Zweitrundeneffekte – beispielsweise über höhere Löhne – die Inflation 2023 und 2024 weit oben halten werden. Die verschiedenen Entlastungsprogramme der Regierungen, vom umstrittenen Hunderte von Milliarden schweren Inflation Reduction Act in den USA bis zum deutschen 200-Milliarden-Euro Abwehrschirm können das zwar dämpfen, aber nicht dauerhaft aufhalten. Zumal mit den deutlich steigenden Schulden der Staatshaushalte die jetzt schon gewaltige Schuldenproblematik weiter verschärft wird.

China ist das Zünglein an der Konjunktur-Waage

Dass das Ausmaß des Konjunkturabschwungs die große Unbekannte für das Börsenjahr 2023 ist, liegt nicht nur an den Folgen der Zins- und Finanzpolitik der westlichen Staaten, sondern auch an China, das zusammen mit den USA den Lauf der Weltwirtschaft maßgeblich bestimmt. Auf der einen Seite ist es für die Konjunktur positiv, dass die Regierung in Peking ihre Null-Covid-Politik stark gelockert hat, weil das weniger Unterbrechungen von Lieferketten bedeutet und Chinas Konjunktur neue Impulse verleiht. Auf der anderen Seite aber führen die zunehmenden Corona-Fälle immer wieder zu Produktionseinschränkungen, die das Wachstum bremsen. Wie stark die Corona-Welle im bevölkerungsreichsten Land der Erde letztlich ausfallen wird, kann niemand voraussagen. Viel wird für die Konjunktur und die Börsen davon abhängen, ob und wann China wieder zur Wachstumslokomotive für die Weltwirtschaft werden kann.

Kurseinbrüche sorgen für gute Einstiegschancen

Was bedeutet das alles für die Börsenentwicklung 2023? Zuallererst große Unsicherheiten und starke Kursausschläge in beide Richtungen. Per Saldo rechne ich mit einem Seitwärtstrend innerhalb eines sehr breiten Kursbandes, der im Lauf des Jahres tendenziell einem neuen Aufwärtstrend weichen könnte. Das bedeutet für langfristig orientierte Anleger, dass sie scharfe Kurseinbrüche, wie wir sie vermutlich mehrmals erleben werden, als Einstiegschancen nutzen können. Wir dürfen ja nicht vergessen:

Die Aktienmärkte eilen der tatsächlichen Konjunkturentwicklung üblicherweise um 9 bis 12 Monate voraus. Eine Wirtschaftserholung 2024 würden die Börsen deshalb schon im Lauf des Jahres 2023 vorwegnehmen – insbesondere die zyklischen Aktien aus den Industriestaaten und die Aktienmärkte der Schwellenländer.

Allerdings wird der Weg an den Börsen vor allem wegen der knapperen Liquidität mühsam bleiben. Um mit meinem schwäbischen Landsmann, dem Dichter Friedrich Schiller zu sprechen: „Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende“. Der Kursanstieg der Jahre vor 2022 erfolgte sozusagen auf einem bequemen Wanderweg, in den nächsten Jahren müssen wir uns auf eine steinigere Klettertour mit vielen Aufs und Abs einstellen. Da ist es am besten, Sie schauen nicht jeden Tag nach wie die Kurse stehen, sondern nur ab und zu. Das schont Ihre Nerven.

Angesichts der zahlreichen Unwägbarkeiten, vom Ukraine-Krieg über Inflation und Inflationsbekämpfung bis zu hektischen Anleihe-, Rohstoff- und Devisenmärkten sowie erheblichen Konjunkturunsicherheiten, sollten Sie ihre Investments zudem möglichst breit nach Regionen und Branchen streuen und nicht nur auf wenige Einzelwerte setzen. Wie schnell sich Trends und Tendenzen ändern können, haben wir ja 2022 zur Genüge gesehen. Am besten lassen sich die Chancen mit ETFs nutzen, also börsengehandelten Indexfonds. Sie bilden preiswert die Performance von Indizes wie dem S&P 500, dem Stoxx Europe 600 oder dem MSCI Emerging Markets eins zu eins nach.

 

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