Meine Meinung

Nun ist die Zeit der Negativzinsen also schneller zu Ende gegangen, als es die EZB noch im Juni angekündigt hatte. Unter dem Druck anhaltend hoher Inflationsraten im Euroraum hat die Notenbank die Leitzinsen um 0,5 % statt um 0,25 % erhöht und damit auch den Irrsinn der negativen Einlagenzinsen endlich beendet.

Ihrer Zinsanhebung hat die EZB aber die Spitze gebrochen, indem sie gleichzeitig ein raffiniertes Instrument erfunden hat, um hochverschuldeten Staaten wie Griechenland und Italien das Schuldenmachen trotz höherer Leitzinsen zu erleichtern: TPI heißt das neue Wundermittel aus der Trickkiste der Notenbank. Das Kürzel steht für Transmission Protect Instrument und bedeutet einen neuerlichen Tabubruch der EZB. TPI soll verhindern, dass die Risikoaufschläge, sprich die Renditen, für Staatsanleihen von Krisenländern so stark steigen wie es die Finanzmärkte für angemessen halten. EZB-Chefin Christine Lagarde kann nun unbegrenzt (!) Staatsanleihen beispielsweise nur von Italien kaufen, wenn die EZB feststellt, dass ein Land angeblich „ungerechtfertigte“ Risikoaufschläge zahlen muss, die eine Bedrohung für die Transmission, also die Übertragung der EZB-Geldpolitik ist.

Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse

Wann dieser Fall eintritt, bestimmt die EZB. Sofern sie die Renditen von italienischen Staatsanleihen für zu hoch hält, kann sie Milliarden um Milliarden in die Schlacht werfen, sprich Italien-Anleihen kaufen, um die Renditen zu drücken. Bei den bisherigen Programmen mussten die Käufe noch relativ fair auf alle Mitgliedsländer verteilt werden. Wenn das keine gezielte Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse ist! Und die ist laut den Verträgen verboten. Aber darum schert sich heute kaum noch jemand, wahrscheinlich weil die EZB ja schon in den vergangenen 10 Jahren einen Großteil der Staatschulden der Euro-Staaten finanziert hat – mit über 4,4 Billionen Euro.

Erstaunlich wenig Kritik entzündet sich auch daran, dass die EZB mit TPI die Märkte nun am Nasenring führen und sich zudem als Richterin über die Finanzpolitik der Euro-Staaten aufschwingen kann.

Die EZB versucht krampfhaft, für alle Euro-Mitglieder um jeden Preis ähnliche Bedingungen zu schaffen, um eine neue Eurokrise zu verhindern. Aber das ist auf Dauer unmöglich, wenn die Staatsverschuldung Italiens mit 152 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) mehr als doppelt so hoch ist wie die Deutschlands mit 68 % (jeweils per Ende März 2022) und die Inflationsraten der Euro-Staaten im Juni zwischen 6 % und 22 % geschwankt haben.

Mit ihrer zusätzlichen Machtfülle maßt sich die EZB an, alles besser zu wissen als Märkte und Regierungen- und beide zu manipulieren. Das alles geht das zu Lasten ihrer Hauptaufgabe, die Preisstabilität zu gewährleisten. Dabei hat die EZB gerade hier schmählich versagt und noch vor wenigen Monaten die Inflation nicht ernst genommen. Jetzt versucht sie das Kunststück, die Inflation zu bändigen, indem sie mit dem einen Fuß leicht auf die Zinsbremse tritt und mit dem anderen aufs Gaspedal, indem sie die Liquidität bei Bedarf mit Anleihekäufen ausweitet. So rückt sie dem Preisauftrieb nicht entschieden genug zu Leibe.

Die Fed geht viel konsequenter gegen die Inflation vor als die EZB

Auch die US-Notenbank Fed hat zwar die Inflation lange Zeit unterschätzt, sie setzt nun jedoch alles daran, um den Preisauftrieb zu bekämpfen. Am 27. Juli hat sie zum zweiten Mal in Folge die Zinsen gleich um 0,75 % erhöht. Und sie will ihren Riesenbestand an Anleihen teilweise verkaufen, also Liquidität entziehen. Mit dieser konsequenten Haltung hat die Fed Vertrauen zurückgewonnen – und die Börsen haben jede Ihrer vier Zinserhöhungen bejubelt. Sie gehen davon aus, dass das rasante Tempo der Anhebungen die US-Inflation mittelfristig zurückdrängen wird.

Dabei „hilft“ zusätzlich eine andere Entwicklung: Die Konjunktur verliert weltweit merklich an Schwung. Und eine langsamere Konjunktur-Gangart trägt dazu bei, dass die Inflation nicht mehr so sprunghaft in die Höhe schnellt wie in den Frühjahrsmonaten. Andererseits erschwert es die Aufgabe der Notenbanken. Bremsen sie zu schnell und stark, kann aus einem Abschwung eine Stagnation oder Rezession werden. Bremsen sie zu wenig, wie die EZB, droht nach einer kurzen Verschnaufpause ein neuerlicher Inflationsschub.

Unternehmensgewinne profitieren von der Inflation

Die Börsen haben schlechtere Wirtschaftsdaten gelassen hingenommen und ihre Kurserholung fortgesetzt, weil sie sie sich dadurch ein schnelleres Ende der US-Zinserhöhungen erwarten. Das trägt dazu bei, dass Geld weiterhin in Hülle und Fülle vorhanden ist, und zwar zu extrem niedrigen Realzinsen. Davon profitieren die Aktienmärkte besonders, weil viele Aktien nach den Kurseinbrüchen dieses Jahres relativ günstig bewertet waren und teilweise noch sind.

Das gilt auch deswegen, weil die Unternehmensgewinne reihenweise viel besser ausfallen als erwartet. So rechnet der Durchschnitt der Analysten nach einem guten Start der Bilanzsaison für das zweite Quartal 2022 jetzt mit einem Gewinnplus der Aktien des breiten Stoxx Europe 600 Index von über 23 %. Einen Monat zuvor waren es noch 15 %. Das hat die Kurse angetrieben, zumal auch an der Wall Street die Erträge meistens positiv überraschen.

Den Unternehmen fällt es in einem inflationären Umfeld eben leicht, ihre Preise zu erhöhen – oft mehr als es die starken Kostensteigerungen verlangen würden.

Die Gewinne nehmen deshalb auch real ansehnlich zu. Aktien bieten damit, wie fast immer, einen gewissen Schutz vor Inflation, während Zinsanlagen dies bei den hohen realen Negativrenditen nicht können. Nach der Ankündigung von TPI durch die EZB sind die Renditeaussichten von europäischen Staatsanleihen sogar noch schlechter geworden. Denn mit TPI hat die Notenbank quasi eine obere Zinsgrenze für Anleihen unsolider Staaten eingezogen.

Aktienmärkte sind noch nicht aus dem Schneider

Bisher hat schon die Ankündigung gewirkt und die Renditen 10-jähriger italienischer Staatsanleihen von 4,3 % auf 3,1 % abstürzen lassen, die von Bundesanleihen von 1,7 % auf 0,9 %. Angesichts der hohen Inflationsraten sind derartige Renditen eine Enteignung mit Ansage. Denn das bedeutet reale Negativzinsen in nie dagewesenem Ausmaß. Aber auch, dass bei Anleihen, im Gegensatz zu Aktien, reale Vermögensverluste schon beim Kauf quasi eingebaut sind. Sie sind damit keine Renditekonkurrenz zu Dividendenpapieren.

Die Aktienmärkte sind trotz der jüngsten kräftigen Erholung und der geringen Konkurrenz von Anleihen noch keineswegs aus dem Schneider. Die zunehmenden Konjunkturrisiken, die hohe Inflation, die Belastungen aus dem Ukraine-Krieg insbesondere für Europas Energieversorgung sowie anhaltende Lieferkettenprobleme dürften den Aktien immer wieder Dämpfer verpassen.

Ich rechne deshalb damit, dass heftige Kursschwankungen auch in den kommenden Monaten das Börsenbild bestimmen werden.

 

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