Meine Meinung

Anscheinend kann zurzeit nichts und niemand die gute Börsenstimmung trüben – zumindest nicht länger als für ein paar Tage. Weder der Ankündigung von US-Notenbankchef Jerome Powell von Ende August, vermutlich noch in diesem Jahr mit der Reduzierung der Anleihekäufe zu beginnen, (Tapering genannt), noch einem enttäuschenden US-Arbeitsmarktbericht für August ist das gelungen. Dennoch bewegen sich die Kurse immer wieder auf ihre Rekordhochs zu.

Die Anleger haben jedes Mal aus schlechten Nachrichten das herausgepickt, was zu steigenden Kursen passt: Bei Powells Tapering-Ankündigung war es seine gleichzeitige Bemerkungen, dass er die erste Zinserhöhung trotzdem erst in weiter Ferne sieht. Und die schwachen Arbeitsmarktdaten wurden so gedeutet, dass dies die Fed vielleicht doch davon abhalten könnte, ihre geldpolitische Straffung 2021 zu starten.

Und in Europa? Da ging in den Tagen vor der EZB-Ratssitzung am 9. September ein Hauch von Angst um, die Notenbanker könnten die Anleihekäufe in Kürze zurückfahren und die Geldflut merklich eindämmen.

Das will die EZB zwar tatsächlich, aber, wie ihre Chefin Christine Lagarde betonte, nur sehr gering. Sie nannte es nicht Tapering, sondern Rekalibrierung. Das hat die Märkte ebenso beruhigt wie ihre Versicherung, das Corona- Notkaufprogramm im Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro mit den schönen Namen PEPP mindestens bis Ende März 2022 fortzuführen. Und es zu verlängern, falls erforderlich. Derzeit kauft die EZB monatlich für etwa 80 Milliarden Euro Bonds nach dem PEPP-Programm, jetzt könnten die Käufe um wenige Milliarden verringert werden. Also kein Grund zur Aufregung für die Börsen, zumal Lagarde erneut versichert hat, die Leitzinsen noch sehr lange bei null Prozent zu belassen.

Am Wendepunkt angelangt

Die Gelassenheit, mit der die Börsen nicht erst in den letzten drei Wochen auf eigentlich ungünstige Nachrichten und Erwartungen reagiert haben, darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass wir an einem Wendepunkt angelangt sind, an einem Wendepunkt von Emergency zu Normalität. Das gilt sowohl für die Geldpolitik als auch – noch stärker – für die Finanzpolitik. Die Notenbanken bremsen ihre Liquiditätsausweitung zunächst zwar nur sehr vorsichtig ab, die Regierungen aber lassen die meisten Corona-Hilfen nach und nach auslaufen. Der Übergang von Notfall zu Normalität ist immer ein schwieriges Manöver. Hier wird Neuland betreten, weil die Welt noch nie auch nur ansatzweise mit so gewaltigen Summen überschwemmt worden ist. Der Entzug eines Teils dieser Liquidität und geringere Konjunkturhilfen stellen die Weltwirtschaft vor eine harte Probe. Und die Börsen damit auch.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Fed seit Beginn der Corona-Krise vor gut eineinhalb Jahren ihre Bilanzsumme auf 8,4 Billionen Dollar glatt verdoppelt und die EZB von 4,7 Billionen Euro auf 8,2 Billionen um rund 75% gesteigert hat. Die Staatsschulden der USA haben gleichzeitig um rund 5 Billionen Dollar auf 28,5 Billionen zugenommen, die Deutschlands von 1,9 Billionen Euro auf über 2,3 Billionen.

Notenbanken und Regierungen stehen also vor der Mammut-Aufgabe, Unternehmen und Verbrauchern diese Stimulanzien nach und nach zu entziehen, ohne den Wirtschaftsaufschwung zu gefährden.

Die Inflation zeigt sich in vielen Bereichen

Die Aufgabe wird nicht dadurch erleichtert, dass in diesem Jahr die Inflation erstmals seit Jahrzehnten wieder ihr hässliches Gesicht zeigt. 5,4% Teuerungsrate in den USA, 3,9% in Deutschland und 3,0% in der Eurozone höhlen die Kaufkraft aus. Das schlägt auch auf die Konjunktur durch, die bis zur Jahresmitte trotz immer wieder aufflackernder Corona-Probleme glänzend gelaufen ist, weitaus besser als erwartet. Aber inzwischen verlangsamt sich das Aufschwungstempo. Und das zum Teil deswegen, weil viele Güter extrem knapp und teuer geworden sind. Vor allem die Versorgung mit Halbleitern stockt. Das beeinträchtigt viele Branchen erheblich, von der Autoindustrie bis zu den Smartphone-Herstellern, und führt zu massiven Produktionsausfällen. Aber auch bei Rohstoffen, Schiffscontainer und sogar Baumaterial kam es zu immense Preissteigerungen. Bei den Rohstoffen ist der Preisauftrieb allerdings in den letzten Monaten zum Stillstand gekommen. Das liegt zum einen an der etwas schwächeren Konjunktur, und zum anderen daran, dass der größte Rohstoffverbraucher China die Nachfrage zurückgefahren und mit dem Verkauf strategischer Reserven die Verknappung gemildert hat. Aber wie die jüngsten Daten zeigen, nimmt das Expansionstempo in China schon wieder leicht zu.

Obwohl die Konjunktur Schwächen zeigt, muss das für die Börsen keine schlechte Nachricht bedeuten. Jedenfalls ist das besser als eine überhitzte Konjunktur.

Solange das Wachstum nicht abbricht, gefährdet es den langfristigen Börsenaufschwung höchstens vorübergehend. Zumal, und darauf schauen die Anleger ja besonders, die Unternehmensgewinne wesentlich stärker klettern als erwartet. Im zweiten Quartal 2021 sind die Gewinne im Vergleich zum entsprechenden „Horror-Quartal“ 2020 laut dem Datenanbieter I/B/E/S im S&P 500 um 95,6% gestiegen, drei Monate zuvor war der Zuwachs noch auf „nur“ 65,4% geschätzt worden. In Europa beim Stoxx 600 Europe haben die Gewinne sogar um 152,5 % zugelegt – vor einem Vierteljahr waren noch 96% erwartet worden. Das erklärt auch, warum die Börsen in den letzten Monaten so widerstandsfähig waren. In den nächsten Quartalen wird zwar das Gewinnwachstum abflachen, aber immer noch hohe zweistellige Raten erreichen – so zumindest die Konsensschätzungen der Analysten.

Das große Bild stimmt …

Das große Bild an den Aktienmärkten stimmt also noch. Zumal viele Anleger angesichts fehlender Anlagealternativen bei jedem Rückschlag wieder einsteigen. Sie befürchten, dass die große Konkurrenz zu Aktien, Anleihen, von einem Zinsanstieg hart getroffen werden wird – denn dann fallen ihre Kurse deutlich. Auf Dauer lassen sich Anleger nicht mit negativen Realrenditen von 3% bis 5% bei zehnjährigen Staatsanleihen abspeisen. Das muss man sich vorstellen: Wer jetzt eine Bundesanleihe kauft, „erhält“ minus 0,35% Rendite. Bei 3,9% Inflation errechnet sich daraus eine reale Verzinsung von minus 4,25%. Um so viel sinkt also derzeit die Kaufkraft des Geldes pro Jahr, das dem Bund geliehen wird.

… aber das kleine Bild zeigt Risiken

Kommen wir zum kleinen, sprich eher kurzfristigen Bild: Da sehe ich durchaus in den kommenden Monaten einen etwas heftigeren Korrekturbedarf. Schließlich sind September und Oktober traditionell unruhige Börsenmonate. Viele Anleger sind zu leichtsinnig geworden, die Bewertungen sind in einigen Bereichen gefährlich hoch und die Nachrichten aus der Politik sowie von Konjunktur, Inflation und Corona-Bekämpfung werden häufiger zu Verunsicherungen beitragen. Aber eine etwas längere und stärkere Kurskorrektur als bisher wäre für die langfristige Entwicklung nicht das Schlechteste. Das würde so manche Übertreibung gerade rücken und viele Anleger dazu bewegen, vor einem Wiedereinstieg wieder mehr auf die fundamentalen Faktoren zu achten, sprich überlegter und vorsichtiger zu agieren.

Merke: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

 

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