Meine Meinung
Ob Aktien oder Anleihen, ob Rohstoffe oder Währungen – überall hat es in den letzten Wochen ordentlich gekracht. Nichts ist mehr zu spüren vom Optimismus, der noch bis Mitte August geherrscht hatte, als der DAX knapp vor der 14 000er Marke stand und der Dow Jones die 34 000 Punkte übersprang. Inzwischen notiert der DAX 2000 Zähler tiefer und der Dow Jones 5000 Punkte. Im Zinsbereich ist die 0,25-prozentige Bundesanleihe mit Laufzeit bis 2029 seither von 97,5 auf 88,5 abgestürzt. Und der Euro ist von 1,03 Euro auf zeitweise 95 Cents gefallen – der niedrigste Wert seit 20 Jahren.

Das britische Pfund ist sogar auf ein Allzeittief abgestürzt, als die neue Regierungschefin Liz Truss massive Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen ankündigte. Das hat die Bank of England unter Zugzwang gesetzt, die Zinsen noch schneller zu erhöhen, um den Pfund-Verfall zu stoppen. Als Notmaßnahme hat sie massiv Pfund-Anleihen gekauft und die Märkte etwas beruhigt. Währungsverluste sind für Euro und Pfund in der jetzigen Situation besonders schmerzhaft, weil sie den Rückgang vieler Energie- und anderer Rohstoffpreise teilweise neutralisieren. Da Rohstoffe meistens in Dollar gehandelt werden, dämpft jede Euro-Abwertung den Preisverfall und verstärkt die Preissteigerungen.

Der Kursabsturz an nahezu allen wichtigen Märkten ist das Ergebnis eines abrupten Umdenkens der Anleger hin zu einer pessimistischeren und, wie ich finde, realistischeren Sicht.

Sie stellen sich darauf ein, dass die Konjunktur stärker in die Knie gehen wird als noch vor zwei Monaten vorausgesagt. Und es bestehen kaum Zweifel, dass die Notenbanken die Zinsschrauben schneller und strenger anziehen werden als erwartet, weil die Inflation immer mehr Bereiche erfasst.

EZB-Chefin Lagarde hat die Gefahren sträflich unterschätzt

Für 2023 rechnet EZB-Chefin Christine Lagarde jetzt mit 5,5 Prozent Teuerung und gilt damit als überoptimistisch. Noch Ende November 2021 hatte sie in einem Interview getönt, die Inflationsrate werde ab Januar 2022 sinken. Schön wäre es. Damals lag die Teuerung im Euroraum schon bei 4,1 Prozent. Im Januar 2022 waren es bereits 5,1 Prozent und im Februar 5,9 Prozent – und das vor Beginn des Ukrainekriegs. Die Prognosefähigkeiten von „Madame Inflation“ sollten Sie also besser mit Vorsicht genießen.

Dabei wäre eine fachlich kompetente EZB-Chefin, die das Vertrauen der Verbraucher, Unternehmen und Anleger besitzt, jetzt so wichtig wie selten zuvor. Aber weil Frau Lagarde erst im Juli mit Zinserhöhungen begonnen hat und vor allem darum besorgt ist, dass die Anleihezinsen hochverschuldeter Länder – insbesondere Italiens – nicht zu stark steigen, ist ihre Glaubwürdigkeit dahin.

Dass die EZB in der Inflationsbekämpfung weit hinter der US-Fed und der Bank of England herhinkt, trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung bei.

Da diesmal anders als früher der Teuerungsschub nicht von einer überhitzten Konjunktur ausgelöst wurde sondern mit einem Abschwung zusammentrifft, wird Europas Geldpolitik zum riskanten Drahtseilakt. Frau Lagarde muss sich entscheiden, ob sie die Inflation mit allen Mitteln bekämpfen will, um langfristige Schäden im Euroraum zu verringern. Oder ob sie weiter halbherzig vorgeht, um die Konjunktur kurzfristig zu schonen. Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz aber mach mich nicht nass“ agieren kann die EZB nicht mehr.

US-Notenbankchef Jerome Powell hat verstanden, dass man rigoros handeln muss. Die Fed hat die Leitzinsen innerhalb eines halben Jahres von 0 auf über 3 Prozent katapultiert und wird sie nach eigenen Prognosen bis Mitte 2023 auf gut 4,5 Prozent anheben.

Die EZB ist erst bei 1,25 Prozent angelangt. Angesichts 10 Prozent Inflation in Deutschland ist das ein Witz. Sie hat deshalb noch einen weiten Weg vor sich. Dass er viel mehr Schlaglöcher aufweist als Anfang des Jahres ist angesichts der Energieprobleme des Euroraums und den Folgen und finanziellen Lasten des Ukraine-Kriegs kristallklar.

Konjunkturprogramme arbeiten gegen eine restriktivere Geldpolitik

Für die EZB ist die Lage auch deshalb kritisch, weil Europas Regierungen mit massiven Energie-Hilfen die Geldpolitik konterkarieren. Während die EZB mit Zinserhöhungen die Konjunktur bremsen muss, kurbeln die Regierungen die Wirtschaft an und verschulden sich in großem Ausmaß. Der Brüsseler Think Tank Brueghel hat ausgerechnet, dass die EU-Staaten in den zwölf Monaten bis zum 21. September 2022 schon fast 450 Milliarden Euro an Energiehilfen beschlossen haben. Und die ganz großen Hilfsprogramme wie die 200-Milliarden-Euro für die deutsche Energiepreisbremse sind da nicht enthalten. Frau Lagarde hat nicht grundlos gemahnt, staatliche Unterstützungen „zeitlich begrenzt und zielgenau“ auszugestalten, um den Inflationsdruck nicht zu erhöhen.

Anders als in der Corona-Krise müssen die EU-Länder jetzt Zinsen für neu aufgenommene Schulden zahlen. Die sind für Staatsanleihen viel stärker gestiegen als die Leitzinsen der EZB. Die Rendite der 10-jährigen Bundesanleihe, die noch vor gut einem Jahr bei -0,5 Prozent gelegen hatte, beträgt jetzt +2,3 Prozent. Italien muss 4.7 Prozent bezahlen. Dabei gilt es als ausgemacht, dass das Land längerfristig nicht mehr als 4 Prozent verkraften kann, ohne dass ihm die Schulden um die Ohren fliegen und eine neue Euro-Krise droht. Das bedeutet, dass uns wohl eine längere Zeit mit einem höheren Inflations- und Zinsniveau bevorsteht.

Gibt es im Oktober eine Wende an den Börsen?

Sie sehen also, es gibt viele Gründe, weshalb die Aktienmärkte nach dem Zwischenhoch vom Juli/August abgestürzt sind. Im Kommentar auf meiner Homepage hatte ich ja vor zwei Monaten gewarnt, dass die Börsen noch längst nicht aus dem Schneider sind und dass es weiterhin heftige Schwankungen geben werde. Mit dem seitherigen Kursverfall haben viele Aktien ein deutlich günstigeres Bewertungsniveau erreicht. Das spricht zumindest für eine Zwischenerholung. Der Oktober war ja schon häufig ein Wendepunkt nach einer Baisse, meistens allerdings erst nach einem „Ausverkauf“, also einem nochmaligen massiven Kurseinbruch.

Börsen haben bekanntlich die Angewohnheit, sowohl nach oben als auch nach unten drastisch zu übertreiben.

Bis vor einem Jahr haben sie das vor allem bei Technologieaktien nach oben getan. Deshalb wäre es keine Überraschung, wenn der Ausschlag nach unten ebenfalls übertrieben stark ausfallen würde.

Besser auf ETFs als auf Einzelaktien setzen

Anleger, die auf den Oktober-Effekt vertrauen und die Bewertung als langfristig attraktiv einschätzen, sollten auf jeden Fall nicht alles auf einmal investieren sondern in mehreren Tranchen.

Und sie sollten weniger auf Einzelwerte setzen, weil ihre individuellen Kurs-Schicksale angesichts der Fülle an wirtschaftlichen und politischen Risiken kaum prognostizierbar sind. Sicherer ist es, breit zu streuen, am besten über ETFs, also börsengehandelte Indexfonds.

Das verringert besonders in schwierigen Zeiten das Risiko einzelner Aktien in einer Rezession, das der legendäre Investor Warren Buffet gern so beschreibt: „Erst wenn die Flut der Ebbe weicht sieht man, wer keine Badehose trägt“. Die Geld-Flut weicht allmählich – und da muss es sich zeigen, welche Unternehmen darauf vorbereitet sind und welche buchstäblich nackt dastehen.

 

Foto: Victoria Gnatluk / istockphoto.com