Meine Meinung
Das erste Halbjahr ist an den Börsen fast schulbuchmäßig verlaufen: Der kräftige Kursaufschwung hat sich dank der zunehmenden konjunkturellen Belebung und der ultralockeren Geldpolitik fortgesetzt, unterbrochen nur von kurzen Rücksetzern. Entscheidend aber ist aus meiner Sicht ein dreifacher Favoritenwechsel hin zu konjunktursensiblen Aktien, der auch in der zweiten Jahreshälfte das Börsenbild bestimmen dürfte:

  • Nicht mehr die 2020 hochgepuschten Technologieaktien führen die Gewinnerlisten an, sondern die Papiere aus den „alten“ Industrie- und Dienstleistungsbranchen, wozu auch die zyklischen Werte gehören. Anders ausgedrückt: Value-Aktien haben die Growth-Titel in den ersten fünfeinhalb Monaten klar aus dem Feld geschlagen. Das ist ein typischer Verlauf in der Frühphase eines Konjunkturaufschwungs.
  • Ähnliches gilt für die Aktien kleinerer Unternehmen, die besser abgeschnitten haben als die Papiere der großen Konzerne. Auch das ist zu Beginn einer Wirtschaftserholung üblich.
  • Die geografische Verteilung der Börsengewinne verläuft ebenfalls lehrbuchmäßig: Die US-Börsen eilen nicht länger mit Riesenschritten voran, sie sind im ersten Halbjahr im Vergleich zu Europa sogar zurückgeblieben. Da die US-Konjunktur zusammen mit der chinesischen als erste und damit lange vor der europäischen angesprungen war, hatten die Aktien an der Wall Street einen klaren Vorsprung. Nun aber setzt auch Europas Wirtschaft den Aufschwung fort, der während der dritten Corona-Welle ins Stocken geraten war. Und das honorieren die Börsen. Amerikas Konjunktur läuft zwar besser als die europäische, aber das haben die kräftigen Kurssteigerungen des Vorjahrs bereits zu einem guten Teil vorweggenommen.

In Zahlen drückt sich der Favoritenwechsel so aus: Der MSCI World Value-Index, der über 900 werthaltige, also niedrig bewertete Aktien aus 23 Industrienationen enthält, hat seit Jahresbeginn bis Mitte Juni um fast 18% zugelegt, der MSCI World Growth mit über 800 Wachstumswerten mit gut 9% gerade mal etwas mehr als die Hälfte.

Und der MSCI World Small Cap, der mehr als 4400 kleine und mittlere Werte enthält, hat mit einem Plus von 18% um 5,5 Prozentpunkte mehr gewonnen als der aus rund 1550 großen Unternehmen bestehende MSCI World.

Konjunktur zieht kräftig an

Ich habe schon angesprochen, dass sich diese Verlaufsmuster des ersten Halbjahrs im Großen und Ganzen meiner Ansicht nach in der zweiten Hälfte fortsetzen wird. Den wichtigsten Grund habe ich genannt: Die Konjunktur gewinnt weltweit kräftig an Fahrt, so dass 2021 vermutlich eines der wachstumsstärksten Jahre der jüngeren Vergangenheit werden dürfte. In meinem Jahresausblick für 2021 hatte ich vorausgesagt, dass im späten Frühjahr 2020 mit großer Wahrscheinlich ein neuer Konjunkturzyklus begonnen hat.

Inzwischen ist aus der Wahrscheinlichkeit eine Tatsache geworden, weil die Regierungen, insbesondere die der USA, unverdrossen so viel Geld wie nie zuvor für Konjunktur- und Infrastrukturprogramme zur Verfügung stellen und die Notenbanken an ihrer extrem expansiven Zins- und Liquiditätspolitik festhalten.

Die EZB hat auf ihrer Sitzung vom 10. Juni klar gemacht, dass sie mindestens bis März 2022 ihren wie sie es nennt „sehr akkommodierenden geldpolitischen Kurs“ beibehalten und im dritten Quartal sogar ihre Anleihekäufe, mit denen sie Liquidität in die Märkte pumpt, ausdehnen wird.

Nachholbedarf stützt die Old Economy

Zusammen mit dem riesigen Nachholbedarf von Konsumenten und Unternehmen nach den Corona-Lockerungen hält das die Konjunktur noch lange in Schwung.

Davon profitieren nahezu alle Branchen und Unternehmen, am meisten diejenigen, die zuvor am heftigsten gelitten hatten.

Das ist vor allem die so genannte Old Economy, also die Branchen, die vor dem Digitalzeitalter den Ton angegeben haben, also überwiegend zyklische Branchen, wie etwa Auto- und Maschinenbau über die Elektroindustrie und die Chemie bis hin zu Tourismus und Konsumgütern. Bei den Pandemie-Gewinnern der New Economy dagegen dürfte mit der Rückkehr zur Normalität das extrem starke Wachstum einem etwas ruhigeren Tempo weichen. Positive Gewinnüberraschungen sind deswegen in den kommenden Quartalen eher bei Value-Aktien als bei Growth-Werten zu erwarten. Das gilt vor allem für die konjunkturellen Nachzügler Europa und Emerging Markets.

So haben die Unternehmensgewinne im breiten europäischen Aktienindex Stoxx 600 Europe im ersten Quartal nach bisherigen Daten um über 95% gegenüber dem Vorjahr zugelegt. Noch im April hatten die Prognosen „nur“ bei rund 50% Plus gelegen. Für das zweite Vierteljahr, für das die Berichtssaison in rund einem Monat beginnt, rechnet der Durchschnitt der Analysten nochmals mit einer Gewinn-Verdoppelung.

Kommt die Inflation in Fahrt?

Natürlich gibt es Risiken, die Anleger im zweiten Halbjahr beachten müssen. Dazu zählt vor allem der steile Anstieg der Inflation. In den USA hat der Preisanstieg im Mai mit 5,0 % den höchsten Stand seit 2008 erreicht. In Deutschland war die Inflationsrate zwar mit 2,5% nur halb so hoch, aber fast auf Zehnjahreshoch.

Und der Trend weist vorerst weiter nach oben, weil das billige Geld und die Corona-Hilfen der Regierungen die Nachfrage in Teilbereichen so massiv anschieben, dass Engpässe entstehen. Das lässt sich am besten bei den Halbleitern ablesen, die zu Produktionsausfällen und Preiserhöhungen führen, aber auch der Transport mit Containern und sogar Baumaterial hat sich wegen der Knappheit extrem verteuert, ebenso die Kosten für Rohstoffe wie Rohöl oder Eisenerz. Und nicht zuletzt steigen die Immobilienpreise in vielen Ländern wegen der Nullzinsen so stark wie seit 2007/2008 nicht mehr – und damals ging vom boomenden US-Immobilienmarkt die Finanzkrise aus.

Die Notenbanken wiegeln zwar ab und sehen im jüngsten Inflationsanstieg nur einen einmaligen Effekt, der 2022 wieder verschwinden werde. Allerdings haben die Geldhüter nicht gerade einen guten Ruf wenn es darum geht, Inflationsraten vorauszusagen. In den letzten 40 Jahren haben sie sich meistens geirrt, jedoch in die andere Richtung, sie haben die Inflationsentwicklung überschätzt. Ich halte zwar die Auffassung von FED und EZB für durchaus plausibel. Aber sollten die Inflationsängste zunehmen, werden die Anleihezinsen ihre Klettertour wieder aufnehmen und die Fed (die EZB dagegen noch nicht) unter Druck setzen, ihre Geldpolitik zu straffen. Und das dürfte dann zu zeitweiligen Turbulenzen führen, wie immer bei einer Richtungsänderung in der Geldpolitik.

Politik sorgt für Unsicherheit

Ein Unruheherd könnte auch die Politik werden, insbesondere, wenn die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China wieder zunehmen. Und natürlich ist für die deutsche Börse, aber auch für die internationalen Märkte, die Bundestagswahl im September ein Unsicherheitsfaktor.

Doch Wahljahre sind meist gute Börsenjahre. Das liegt daran, dass die Regierung der Konjunktur noch einen extra Schub gibt, um ihre Erfolgsbilanz zu verschönern.

Mein Fazit für das zweite Halbjahr lautet: Der Kursaufschwung an den Aktienbörsen geht unter stärkeren Schwankungen als zuletzt weiter. Favoriten bleiben die Gewinner des ersten Halbjahrs, also niedrig bewertete konjunkturabhängige Value-Aktien und Small Caps vor allem aus Europa und den Schwellenländern. Die größten Risiken gehen nach meiner Ansicht von der Inflationsentwicklung und politischen Unsicherheiten aus.

 

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