Kann es für Währungshüter einen schlimmeren Beinamen geben als den, mit dem Börsianer seit Herbst vorigen Jahres Christine Lagarde verspotten? „Madame Inflation“ wird sie genannt. Zu Recht. Denn sie hat ihre Hauptaufgabe, die Geldwertstabilität im Euroraum zu sichern, so gewaltig vernachlässigt wie vor ihr kein EZB-Präsident, nicht einmal ihr Vorgänger Mario Draghi. Erst jetzt hat sie eine Art Plan zur Bekämpfung der ausufernden Inflation vorgelegt. Lange nachdem die Notenbanken der USA, Großbritanniens, Indiens oder Australiens die Zinswende eingeleitet haben, bequemt sich jetzt auch Madame Lagarde. Aber auch nur arg halbherzig.
Noch vor ein paar Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass die EZB erst bei einer Inflationsrate von 8,1 Prozent und damit dem mehr als Vierfachen ihres offiziellen 2-Prozent-Ziels aktiv wird. Da kann man nur mit Wehmut an die bedingungslose Stabilitätspolitik der Deutschen Bundesbank vor der Euro-Einführung zurückdenken. Sie hätte allerspätestens im Oktober 2021 die Zügel gestrafft, als die Teuerung in der Eurozone die 4-Prozent-Marke übersprang – wahrscheinlich aber schon drei Monate vorher, als die 3-Prozent-Hürde gerissen wurde. Das war lange vor dem Ukraine-Krieg.
Ein Witz – Negativzinsen trotz rekordhoher Teuerung
Was der EZB-Rat am 9. Juni nun als Maßnahmenbündel gegen die Inflation beschlossen hat, ist allerdings ein Witz. Und zwar ein furchtbar schlechter. Kein Wunder, dass Europas Aktien- und Rentenmärkte daraufhin in die Knie gegangen sind, ebenso der Eurokurs, der um 13 % niedriger liegt als vor einem Jahr. Ich greife einige Punkte heraus, die nicht nur für mich völlig unverständlich sind:
Erst in der nächsten Sitzung des EZB-Rats am 21. Juli sollen die Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte angehoben werden.
Das wäre der erste Zinsanstieg seit genau 11 Jahren. Viele Experten hatten mit mehr, nämlich mit 0,5 Prozent gerechnet. Das bedeutet, dass der eigentliche Leitzins, der Einlagensatz für Banken, mit dann minus 0,25 % weiter negativ bleibt. Erst im September bei der angedachten zweiten Zinserhöhung, würde er die Null-Linie erreichen oder überschreiten. Angesichts einer durchschnittlichen Inflationsrate für 2022 von 6,8 %, wie sie die EZB jetzt voraussagt, ist das lächerlich. Im Vergleich zu dem Tempo, das die US-Fed bei der Inflationsbekämpfung vorlegt, kann man nur sagen: viel zu spät und viel zu wenig.
Dass die EZB nicht mehr in erster Linie Währungshüterin ist sondern eine Art Sozialamt für hochverschuldete Mitgliedsländer zeigt sich daran, dass sie „ungerechtfertigte Ausweitungen“ des Renditeabstands für Staatsanleihen durch geeignete Maßnahmen verhindern will.
Im Klartext: Frau Lagarde vergrößert zwar ab 1. Juli das Nettovolumen ihrer Anleihebestände nicht weiter. Sie wird aber bei der Wiederanlage auslaufender Papiere überdurchschnittlich stark Staatanleihen von Griechenland, Italien, Spanien und anderen Schuldenkönigen kaufen, zu Lasten deutscher und anderer Papiere. Damit will sie die Länder, die bei normalen Zinsen und ohne die jahrelangen Billionen-schweren Finanzierungen durch die EZB-Bondkäufe längst pleite wären, über Wasser halten. Experten gehen davon aus, dass Italien Renditen von über 4 % für Staatsanleihen mit 10 Jahren Laufzeit kaum länger schultern kann. Inzwischen sind wir bei 4,05 % angelangt. Der Zinsabstand zu deutschen Bundesanleihen hat sich damit in kurzer Zeit um rund 1,2 Prozentpunkte auf 2,4 % verdoppelt. Aber auch die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen ist seit Jahresbeginn von minus 0,4 % auf plus 1,6 % geklettert. Es ist aber nicht Aufgabe der EZB, den europäischen Südstaaten das fröhliche Schuldenmachen unbegrenzt zu ermöglichen.
Klar, Madame Lagarde will um jeden Preis verhindern, dass uns der Euro um die Ohren fliegt, wenn ein großes Mitgliedsland wie Italien an den Kapitalmärkten in Bedrängnis gerät. Dass sie dafür die höchsten Inflationsraten seit Jahrzehnten lächelnd in Kauf nimmt, ist jedoch unverzeihlich.
Ihre jüngste Prognose, dass der Preisanstieg im Euroraum schon 2024 wieder auf 2,1 % zurückgeht, ist nur dann annäherungsweise realistisch, wenn die EZB sofort mit harten Bandagen gegen die Inflation angeht. Je später sie die Zügel anzieht, desto härter müssen die Maßnahmen anschließend ausfallen. Nach den Beschlüssen vom 9. Juni signalisieren jedenfalls die Kapitalmärkte, dass sie Madame Inflation noch weniger als zuvor zutrauen, den Preisauftrieb entschieden zu bekämpfen, bevor er sich festsetzt. Da ist es kein Trost, dass in den USA die Inflation mit 8,6 % noch schlimmer wütet – trotz Zinswende und Abbau der Anleihebestände. Gut möglich, dass die Fed in in den nächsten Tagen sogar eine Leitzinserhöhung um 0,75 % statt der erwarteten 0,5 % vornimmt. Das zeigt, wie schwierig es ist, die Teuerung wieder einzufangen, sobald sie von der Leine gelassen worden ist.
Vermutlich werden die Teuerungsraten im zweiten Halbjahr leicht fallen. Das liegt aber nicht daran, dass der Inflationsdruck nachlässt, sondern dass viele Länder Entlastungspakete schnüren, mit denen die immensen Kaufkraftverluste der Verbraucher teilweise ausgeglichen werden sollen.
Aber Maßnahmen wie in Deutschland das 9-Euro-Ticket und niedrigere Mineralölsteuern für drei Monate sowie die Abschaffung der EEG-Umlage auf den Strompreis ab 1. Juli sind nur Tropfen auf den heißen Stein.
Sie verschleiern die tatsächlichen Inflationskräfte eher, als dass sie sie langfristig mildern. Und sie schaffen mit einer starken Ausweitung der Staatsverschuldung auf Dauer zusätzlich gewaltige Probleme für den Euro und den Euroraum.
Die Belastungen für die Aktienmärkte nehmen weiter zu
Was bedeutet das für die Aktienmärkte? Zunächst einmal eine anhaltend hohe Unsicherheit, die sich in starken Kursschwankungen niederschlägt. Zumal ja auch die geopolitische Lage und immer wieder drohende Corona-Restriktionen wie in den letzten Wochen in China die Aussichten verdüstern und unberechenbar machen. Noch sorgen die einigermaßen intakte Konjunktur, die Fülle an Liquidität, die von Notenbanken geschaffen worden ist, und die zum Teil erstaunlich günstige Bewertung zahlreicher Aktien immer wieder für kräftige Kurserholungen. Aber das Risiko groß, dass die Kaufkraftverluste der Verbraucher und die steigenden Zinsen das Wirtschaftswachstum zunehmend stärker belasten, trotz der massiven Konjunkturspritzen der Regierungen. Und das lässt die Börsen voraussichtlich immer wieder erzittern, wie in den letzten Tagen. Wir Anleger gehen deshalb einem unruhigen Sommer entgegen – und einem herausfordernden zweiten Halbjahr.
Foto: Andrej Hanzekovic/European Central Bank