Meine Meinung

In den letzten Wochen bin ich mehrmals darauf angesprochen worden, ob dieses Jahrzehnt, ähnlich wie ein Jahrhundert zuvor, auch als die „Goldenen 20er“ in die Annalen eingehen werden. Und ob auch diesmal das Ganze mit einem großen Krach, also einer Weltwirtschaftskrise und einem jahrelang dauernden Börsenabsturz enden werde. Ich habe die Entwicklungen vor 100 Jahren, die ich seit dem Beginn meiner Tätigkeit als Vermögensverwalter immer wieder studiert habe, nochmals gründlich analysiert und mit der jetzigen Situation verglichen. Dabei habe ich so manche Parallelen entdeckt, aber auch viele Unterschiede.

Damals wie heute: Am Anfang war die Pandemie

Warum wurden die 1920er Jahre als die „Golden Twenties“ oder „Roaring Twenties“ bezeichnet? Weil nach dem Ersten Weltkrieg und der bis 1920 dauernden Spanischen Grippe – die Schätzungen zufolge 25 bis 50 Millionen Todesopfer gefordert hatte – die Wirtschaft in vielen Ländern zu boomen begann. Angeführt wurde der Aufschwung von den USA. Der Nachholeffekt nach den Entbehrungen der Kriegs- und Seuchenzeit war gewaltig, sowohl bei Verbrauchern als auch bei Unternehmen, die mit hohen Investitionen ihre Produktion hochfuhren. Verstärkt wurde das Wachstum durch den technologischen Fortschritt. Elektrifizierung, Autos, Radios, das Telefon und andere Erfindungen der Jahrzehnte zuvor wurden durch die Massenfertigung zunehmend preiswerter. Immer mehr Menschen konnten sich diese Güter leisten, zumal ein deutlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen die Kaufkraft der Verbraucher verbesserte. Der Fortschrittsglaube war unerschütterlich – und die Börsen spiegelten diesen Optimismus wider. Der Dow Jones Index vervierfachte sein Niveau von 1920 bis zum Crash im Oktober 1929.

In Deutschland verliefen Wirtschafts- und Börsenentwicklung zunächst jedoch ganz anders. Erst als die Regierung nach der Hyperinflation 1924 eine Währungsreform umsetzte, ging es auch hier mit Wirtschaft und Börse kräftig aufwärts. Der deutsche Aktienindex stieg von Mitte 1924 bis Mitte 1928 um über 150 Prozent.

Eine große Gemeinsamkeit mit der aktuellen Situation lag also darin, dass eine Pandemie dazu geführt hat, dass Verbraucher und Unternehmen ihre Ausgaben stark einschränken mussten. Allerdings kamen vor 100 Jahren noch die Kriegsfolgen hinzu. Die Menschen und viele Unternehmen, vor allem in Europa, hatten deshalb zu Beginn der 1920er Jahre mit einem halben Dutzend Jahren sehr viel längere Not-Zeiten als wir jetzt nach gut einem Jahr Pandemie.

Im Prinzip brachte der Corona-Lockdown lediglich die Unterbrechung eines vor allem in den USA und China sehr langen Wirtschafts- und Börsenaufschwungs, der bereits 2009 nach der Finanzkrise angefangen hatte. Der Aufholbedarf war deshalb vor 100 Jahren ungleich größer.

Damals wie heute: Technologischer Fortschritt als Wachstumsmotor

Die zweite Gemeinsamkeit betrifft den technologischen Fortschritt. Was damals Auto, Telefon und Co. waren, ist jetzt die so genannten „Digitale Revolution“, die immer mehr Lebens- und Produktionsbereiche erfasst. Diese „Digitale Transformation“, wie sie auch genannt wird, hat zwar schon in den Jahren zuvor das Wachstum angekurbelt – aber seit der Pandemie geschieht die Umstellung viel schneller und stärker. Und sie hat dadurch Produktivitätsgewinne der Anwender ermöglicht und so maßgeblich dazu beigetragen, dass die Inflation gezähmt geblieben ist. Zumindest bisher.

Das Wachstumstempo jetzt dürfte sich, ähnlich wie ab 1920, erheblich verstärken, sobald die pandemiebedingten Einschränkungen weitgehend entfallen. Angetrieben wird es neben der Digitalisierung vor allem durch zwei Entwicklungen: Billionen-schweren Konjunkturhilfen vieler Staaten und einer ultra-expansiven Geldpolitik mit Nullzinsen und extrem hohen Liquiditätsspritzen. In diesen weltweit gleichzeitigen Anstrengungen, die sich wegen der engen Handelsverflechtungen gegenseitig verstärken, liegt ein gewaltiger Unterschied zu den 1920er Jahren. Auch damals haben die Staaten ihre Ausgaben erhöht, aber bei weitem nicht so massiv. Stark gestiegen ist damals die Verschuldung der Unternehmen und Privathaushalte. Nach dem Crash 1929 war das mit verantwortlich für die anschließende Weltwirtschaftskrise. Die Notenbanken haben in den 1920ern ebenfalls angeschoben, aber relativ behutsam. Der US-Leitzins bewegte sich lange bei 3,5%. Erst als Konjunktur und Aktienmärkte ab 1928 zu überhitzen drohten, zog die Fed die Zügel an und schraubte ihn auf 6% hoch. Dieser starke Zinsanstieg gilt als ein Auslöser des Börsenkrachs vom Oktober 1929.

Seither haben die Notenbanken viel mehr Möglichkeiten. Sie sind, überspitzt ausgedrückt, nahezu unendlich, sowohl bei den Zinsen, die sogar im negativen Bereich liegen, als auch bei der Liquiditätsversorgung. Die US-Notenbank Fed hat allein von März 2020 bis Mitte Februar 2021 ihre Bilanzsumme von 4,1 Billionen auf 7,5 Billionen Dollar fast verdoppelt, die EZB hat sie von 4,6 auf über 7 Billionen Euro gesteigert.

Damals unflexibler Goldstandard, heute flexibler Geldstandard

Beide Notenbanken versichern unablässig, in den nächsten Jahren keine Zinsanhebungen vorzunehmen und die Liquidität hoch zu halten. Denn nur mit den extrem niedrigen Zinsen und den massiven Anleihekäufen der Notenbanken können die Staaten ihre in der Pandemie stark gestiegenen Haushaltsdefizite finanzieren. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass alle Börsencrashs von steigenden Zinsen ausgelöst oder begleitet worden sind. Mit Ausnahme des Corona-Crash im März/April 2020.

Von der Zinsseite droht damit vorerst kein Gegenwind für Wirtschaft und Börse, sie ist noch lange Zeit der stärkste Impulsgeber für die Aktienkurse. Zinsanlagen sind aus Ertragssicht keine Alternative zu Aktien. Das viele neue Geld fließt deshalb bevorzugt in Aktien. Und das könnte früher als von vielen erwartet zu einer Überhitzung der Börsen führen. In einigen Technologie- und Gesundheitsbranchen ist das bereits der Fall, nicht aber an den Aktienmärkten insgesamt. Wann eine Börsenblase aber platzt, kann niemand seriös voraussagen. Die späten 1990er Jahre mit ihren maßlosen Kursübertreibungen haben ja gezeigt, dass eine Spekulationsblase viel länger und stärker aufgebläht werden kann, als es der gesunde Menschenverstand und die Kapitalmarkttheorie fassen können. Der damalige US-Notenbankchef Alan Greenspan hatte bereits im Dezember 1996 vor irrationalen Übertreibungen gewarnt – erst gut drei Jahre später, im März 2000, begann der Crash.

Für den Crash vom Oktober 1929 gab es keine so langen Vorwarnungen. Erst ab 1928 häuften sich die Probleme. Und anders als in allen Crashs seither dauerte es damals extrem lange, bis die Börsen und die Wirtschaft wieder auf die Beine kamen. Und das hatte einen Grund: den Goldstandard, der damals eine flexible Antwort auf die Krise verhinderte.

Warum das so war beschreibe ich in meinem Beitrag: Wie der Goldstandard 1929 Börsencrash und Weltwirtschaftskrise auslöste

Gute Voraussetzungen für ein paar „goldene Jahre“

Die spannenden Fragen, ob und wann diesmal die goldenen Zeiten enden, und das möglicherweise mit einem Crash, lassen sich also nicht einfach beantworten.

Mein Fazit aus dem Vergleich der beiden Jahrzehnte lautet: Viele Voraussetzungen für ein paar ähnlich gute Konjunktur- und Börsenjahre wie in den 1920ern sind gegeben, aber es ist unwahrscheinlich, dass die guten Zeiten so lange dauern werden.

Ein so ungehemmtes Liquiditäts- und Schuldenwachstum, wie es aktuell praktiziert wird, kann auf Dauer nicht ohne Folgen für die Inflation bleiben. Sobald sie den erwünschten Korridor rund um die 2-Prozent-Marke deutlich überschreitet, müssen die Notenbanken reagieren und die lockeren Zügel wieder anziehen. Das könnte dann den Aktien- und Wirtschaftsaufschwung jäh beenden. Aber bis dahin ist viel Zeit, Zeit, in der natürlich auch andere Faktoren – wie eine sich länger als erwartet hinziehende Pandemie oder neue Zoll- und Sanktionskriege – die Weltwirtschaft und mit ihr die Börsen entscheidend schwächen können.

 

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