Meine Meinung

Der vorübergehende „Waffenstillstand“ im Handelskrieg USA-China, der auf dem G-20-Gipfel in Osaka zwischen Donald Trump und Xi Jinping vereinbart worden ist, hat den Weltbörsen einen neuen Kursschub beschert. US-Aktien, gemessen am S&P 500-Index, haben ein neues Rekordhoch erklommen, viele andere Börsenplätze neue Jahreshöchststände. Gewinne zwischen 15% und 20% waren im ersten Halbjahr bei wichtigen Aktienindizes wie DAX, MDAX, EuroStoxx 50 oder MSCI Welt an der Tagesordnung.

Und das, obwohl sich gleichzeitig die konjunkturellen Schwächezeichen weltweit mehren. Die Wachstumsprognosen für 2019 werden reihenweise gekappt. Vor allem die Industrie leidet, weil Amerikas Zoll- und Sanktionskriege den Welthandel bremsen und Unternehmen Investitionen zurückstellen oder streichen, weil ihnen die Planungssicherheit fehlt. Vor einer Rezession der Gesamtwirtschaft bewahren uns nur gute Geschäfte der Dienstleister.

Die Talfahrt der Konjunktur scheint die Anleger jedoch wenig zu kümmern, sie kaufen munter Aktien. So seltsam das auf den ersten Blick anmutet, so logisch sieht es auf den zweiten aus.

Denn bei dem gemeinsam mit den Unternehmensgewinnen (die unter der Konjunkturschwäche leiden) dominierenden Einflussfaktor für die Aktienbewertung – den Zinsen- haben sich die Vorzeichen parallel zur Konjunktur-Talfahrt dramatisch verändert. Seitdem die US-Notenbank Fed und die europäische EZB zunächst – Ende 2018 – Zinserhöhungen für 2019 ausgeschlossen und nun baldige Zinssenkungen in Aussicht gestellt haben, überwiegt der Optimismus. Die Anleger hoffen, dass die geballte Kraft des noch billigeren und noch reichlicheren Geldes früher oder später die Konjunktur wieder ins Laufen bringen wird – so wie bisher fast immer. Das nehmen die Börsen vorweg, denn sie sind voreilig und laufen in der Regel der Wirtschaftsentwicklung um sechs bis neun Monate voraus.

Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: Die Zinssenkungserwartungen haben die Renditen von Anleihen, der wichtigsten Konkurrenz für Aktien, massiv gedrückt. Bundesanleihen mit zehn Jahren Laufzeit weisen eine Rendite von minus 0,4 Prozent Rendite auf, zweijährige von minus 0,8 Prozent. Anleger müssen dem Staat Geld zahlen, um seine Schuldscheine kaufen zu dürfen. Was für ein Irrsinn! Weltweit weisen  Staatsanleihen im Volumen von über 13 Billionen Euro Negativzinsen auf. Großanleger reagieren darauf, indem sie einen Teil ihrer riesigen Anleihebestände in Aktien umschichten. Nur so können sie noch nennenswerte laufende Erträge erzielen, bringen doch Aktien weltweit im globalen Durchschnitt drei Prozent Dividendenrendite.

Der berühmte Investor Warren Buffett hat Anfang Mai, als die Anleihezinsen noch viel höher waren, einen bemerkenswerten Satz geprägt: „Aktien sind lächerlich billig, wenn die Zinsen auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben.“

Anders ausgedrückt:  Aktien sind in einer zinslosen Zeit noch viel attraktiver als in normalen, weil ihre Bewertung im Vergleich zu Zinsanlagen trotz gestiegener Kurse und schwächelnder Gewinne außerordentlich günstig ist. Das lässt sich nicht nur an der Dividendenrendite ablesen, sondern auch an einer anderen Kennzahl, der Gewinn-Rendite von Aktien. Sie ergibt sich als Reziprok-Wert (Kehrwert) des Kurs-/Gewinn-Verhältnisses (KGV). Das KGV des Stoxx 600 wird für 2019 auf 14 geschätzt, entsprechend beträgt die Gewinn-Rendite 7,1%. Beim DAX liegt sie mit einem KGV von 13,1 bei 7,6%, und beim S&P 500 mit  einem KGV von 17,2 bei 5,8%. Dieser riesige Renditevorsprung gegenüber Zinsanlagen bedeutet aber nicht, dass die Aktienkurse in der zweiten Jahreshälfte rasant weitersteigen werden. Aus mehreren Gründen:

Die Erwartungshaltung an die Zinspolitik ist so hoch, dass Enttäuschungen jederzeit möglich sind, beispielsweise wenn US-Notenbankchef Jerome Powell die Leitzinsen nicht so stark senkt wie angenommen. Derzeit kalkulieren die Märkte mit zwei bis drei Zinsschritten in diesem Jahr, dem ersten davon am 31. Juli. Gut möglich, dass Powell nach der wahrscheinlichen Senkung Ende Juli nicht mehr so forsch vorgehen wird, auch deshalb, weil Trump ihn mit harscher Kritik zu Zinssenkungen drängt und droht, ihn aus dem Amt zu werfen. Um seine Unabhängigkeit zu beweisen, könnte Powell die Zinsen langsamer zurücknehmen als erwartet.

Und die EZB? Sie hat ihr Pulver angesichts eines Leitzinses von null weitgehend verschossen, sie kann nur noch andere  Zinssätze senken, vor allem für den Einlagensatz, den Banken für Gelder zahlen müssen, die sie bei der EZB parken.

Er liegt bei minus 0,4%. Dass die unverantwortliche Negativzinspolitik noch lange fortgeführt werden dürfte, dafür bürgt die von den EU- Politikern ausgekungelte künftige EZB-Chefin Christine Lagarde. Obwohl sie nie in ein einer Bank tätig war, geschweige denn in einer Notenbank, wird sie Nachfolgerin Mario Draghis.

Dass sie – wie der Fed-Chef Powell – Jura und nicht Ökonomie studiert hat, muss aber kein entscheidender Nachteil sein. Geldpolitik ist keine Geheimwissenschaft und die niedrigen Zinsen bei niedriger Inflation und bescheidenem Wirtschaftswachstum sind stark durch weltweit veränderte fundamentale  Faktoren bedingt:

1.    dem demographischen Wandel einer ergrauenden Weltbevölkerung
2.    einer starken Ersparnisbildung in den Schwellenländern und
3.    dem Wandel von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft, in der Unternehmen weniger in Sachkapital investieren und selbst zu Sparern werden.
Diese Einflussfaktoren werden nicht verschwinden.

Viel entscheidender ist, wie unter Federführung des französischen Präsidenten Macron das Personalpaket in Brüssel geschnürt wurde. Macron hat mit klarer Absicht die Hand für die Besetzung der EZB gehoben.
Denn Frankreich ist es seit der Wiedervereinigung darum gegangen, mit der Einführung der Gemeinschaftswährung die D-Mark zu beseitigen und dadurch die Oberhand über die europäische  Zinspolitik zu gewinnen. Das hat geklappt: Mit Jean-Claude Trichet und dessen Nachfolger Mario Draghi standen in den 20 Jahren seit Bestehen der Währungsunion  Befürworter einer laschen Geldpolitik  und einer weichen Währung 16 Jahre lang an der Spitze der EZB.  Rechnet man die 8-jährige Amtszeit von Lagarde hinzu, ist es Frankreich gelungen, die EZB mit ihrer geldpolitischen Denkungsart – außer den 4 Jahren am Beginn mit dem Holländer Wim Duisenberg – 24 Jahre lang bestimmt zu haben.

Nachdem Manfred Weber als EU-Kommissionspräsidenten abgelehnt wurde, hätte Angela Merkel das Amt des Präsidenten der EZB beanspruchen und den Präsidenten der Bundesbank, Jens Weidmann, vorschlagen können. Doch sie hat den bestqualifizierten Deutschen eiskalt fallen lassen.

Fazit: Der Triumphator in diesem ganzen Personal-Poker ist der französischen Präsident Macron.

Lagarde ist bekannt dafür, dass sie eine ultralockere Geldpolitik bevorzugt. Deshalb können wir von einer noch lange anhaltenden Null- und Minuszinspolitik ausgehen.

Die EZB wird mit Lagarde nichts unversucht lassen, um Frankreich, Italien und den anderen südlichen Euro-Mitgliedsstaaten das Schuldenmachen weiter zu erleichtern. Und sie wird vermutlich die Politisierung der EZB, also die Ausrichtung der Geldpolitik an den Interessen der Regierungen statt der Unternehmen, Verbraucher und Anleger, noch weiter vorantreiben. Das sind keine guten Aussichten für Zinssparer.

Alle wichtigen  Notenbanken stecken im gleichen Dilemma: Sie haben kaum noch Instrumente, um eine Rezession wirksam zu bekämpfen. Deshalb unternehmen Fed und EZB alles, um sie zu vermeiden, das heißt, sie lockern früher und länger als es angebracht wäre. Die EZB wird nicht vor Mitte 2021 oder gar erst 2022 an Zinserhöhungen denken. Das zweite Hindernis für einen anhaltend starken Kursaufschwung ist die Konjunktur. Solange die Frühindikatoren wie die Einkaufsmanager-Indizes oder das ifo-Geschäftsklima abwärts zeigen, bleibt unklar, wann die Wende nach oben gelingt. Hier sind also ebenfalls negative Überraschungen möglich – aber auch positive.

Starker Gegenwind kommt dazu zunehmend von der politischen Seite. Beim Brexit und bei den Handelskriegen ist die Unsicherheit groß. Bisher haben die Börsen zwar die Konflikte gut weggesteckt, aber das muss nicht so bleiben. Zumal man nie wissen kann, gegen welches Land, welche Branchen und welche Unternehmen der unberechenbare US-Präsident als nächstes  seine Blitze schleudert. Und in der EU brodelt es ebenfalls. Das unwürdige Geschachere um die wichtigsten Posten, die auseinanderdriftenden Interessen der Mitgliedsländer und die Schuldenprobleme Italiens haben vermutlich Zerreißproben zur Folge. Das belastet  auch das europäische Konjunkturklima.

Welches Fazit lässt sich aus den verschiedenen Einflussfaktoren für die zweite Börsenhalbzeit ziehen?

Dem positiven Einfluss der rekordniedrigen und noch weiter fallenden Zinsen stehen mit der rückläufigen Konjunktur und den politischen Konflikten gewichtige negative Faktoren gegenüber. Das wird die zinsbedingt weiter  aufwärts gerichtete Grundtendenz an den Börsen immer wieder empfindlich beeinträchtigen. Rückschläge von 10% und mehr sind durchaus möglich. In einer Phase, in der so viele Unsicherheiten herrschen und Trumps irrlichternde Politik Voraussagen erheblich erschwert, fahren Anleger am besten, wenn sie ihr Depot möglichst breit international aufstellen:

Dies lässt sich am besten bewerkstelligen,  indem man in bestimmte Aktienklassen investiert. Nach Erkenntnissen der Finanzwissenschaft  schneiden Value-Aktien (Substanzwerte) sowie Nebenwerte und Schwellenländeraktien langfristig, inklusive Dividenden,  besser ab als Wachstumsaktien. Diese Art des Investierens basiert nicht auf der Selektion von einzelnen Branchen oder Aktien, sondern auf einem Index. Das geschieht ganz einfach mit ETFs – börsengehandelte Indexfonds.

In den zu erwartenden stärker schwankenden Börsen kommt es darauf an, zwei sich widerstrebende Ziele unter einen Hut zu bringen: die Schwankungen zu glätten und gleichzeitig eine ordentliche Rendite zu erzielen. Das gelingt mit einem international aufgestellten Portfolio, am einfachsten und kostengünstigsten mit ETFs.

Ende 2017 ist ein von mir nach diesen Aspekten konzipierter Fonds, dem „Pro Select Weltfonds“ gegründet worden. In diesem Fonds sind die langfristig überlegenen Aktienklassen übergewichtet. Daneben enthält er Aktien-ETFs aus den Bereichen Nahrung und Getränke, Technologie, Wasser und globale Immobilien. Außerdem hat er als sogenannter Mischfonds 30% in Anleihen investiert.  Die bringen zwar keine nennenswerte Rendite, aber sie dienen als Sicherheitsanker.

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