Meine Meinung

Viele Anleger, Profis wie Private, können es einfach nicht fassen: Da werden die Konjunkturprognosen fast schon im Wochenrhythmus nach unten korrigiert – zuletzt Anfang Juni ganz drastisch von den Fünf Wirtschaftsweisen, – und die Aktienmärkte stürmen unbeirrt nach oben. Noch nie in der Börsengeschichte sind die Kurse innerhalb von 50 Börsenhandelstagen so stark gestiegen wie seit dem Börsentief von Mitte März – um 50% beim DAX, um 40% beim US-Leitindex S&P 500.

Vor allem die Crashpropheten, die den rasanten Absturz im Februar und März erst als Beginn einer langjährigen Börsenbaisse ansahen, verstehen die Welt mit jedem Börsentag noch weniger. Aber auch die Prognosen zahlreicher amerikanischer und europäischer Analysten und Kommentatoren sind seit Wochen ausgesprochen pessimistisch. Aber die Börsen hat das kalt gelassen. Sie sind nahezu ohne Unterbrechung gestiegen und haben einen erheblichen Teil der enormen Crashverluste aufgeholt. Manche Indizes, wie der Nasdaq 100, sind sogar auf neue Allzeithochs geklettert.

Die Lehren aus der großen Depression ab 1929

Warum aber ignorieren die Aktienmärkte die schlechten Konjunkturdaten weitgehend und treiben die Börsenpessimisten zur Verzweiflung? Das liegt vor allem daran, dass die Notenbanken, aber auch die Regierungen, die Welt mit astronomischen Summen an Geld geflutet haben, und das im Rekordtempo. Der gewaltige Irrtum der Crashpropheten liegt darin, dass sie glauben, die Staaten müssten tatenlos zusehen, wie die Krise immer schlimmer wird. Aber Regierungen und Notenbanken wissen ganz genau, dass sie jetzt das menschenmögliche unternehmen müssen, um die Wirtschaft und mit ihr die Börsen so schnell wie möglich zuerst zu stabilisieren und dann wieder auf die Beine zu bringen. Sie wollen eine Katastrophe wie 1929-1932 vermeiden. Wegen des Goldstandards blieben den Notenbanken damals die Hände gebunden. Als Folge gab es eine Wirtschaftsdepression mit Massenarbeitslosigkeit und einen Börsencrash, bei dem der Dow Jones etwa 90 Prozent verlor.

Der damalige Doppelcrash von Wirtschaft und Aktien kostete viel Geld und erst 1939 war der Normalzustand wieder hergestellt. Es hat ein Mehrfaches so viel gekostet, als wenn man die Depression verhindert hätte. Dass sich ein solcher totaler Absturz wiederholen könnte, halte ich für unwahrscheinlich. Den Goldstandard gibt es seit langem nicht mehr! Er hat damals verhindert, dass genügend Liquidität geschaffen und der Wirtschafts- und Börseneinbruch frühzeitig gestoppt werden konnte.

40 Millionen Dollar pro Minute

Jetzt ist die Situation eine ganz andere: Die Zentralbanken und die Finanzwissenschaftler haben immer neue Instrumente zur Krisenbekämpfung „erfunden“, die den Notenbankern eine nahezu gottähnliche Macht verleiht, Geld aus dem Nichts zu schaffen. Und das tun sie in unvorstellbarem Ausmaß. Allein die US-Notenbank Fed hat von Mitte Februar bis Mitte Mai ihre Bilanzsumme um drei Billionen Dollar auf sieben Billionen ausgeweitet. Das ist ein Plus von 70%. Die Zentralbanken der Welt insgesamt haben allein in den zwei Monaten bis Mitte Mai für über 4 Billionen Dollar Anleihen aufgekauft und damit Liquidität geschaffen. Das waren, um es zu verdeutlichen, 2,4 Milliarden Dollar pro Stunde, 40 Millionen in jeder Minute. Solche Größenordnungen kann man sich kaum vorstellen – und sie wären selbst in der Finanzkrise vor 12 Jahren unvorstellbar gewesen, in der ja auch schon alle bis dahin bekannten Dimensionen gesprengt worden sind. Der bekannte und in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreiche US-Investor Stanley Druckenmiller war seit dem Corona-Crash sehr pessimistisch für die Börsen und hat den Großteil des Kursaufschwungs verpasst. Aber vor einigen Tagen ist er reumütig zu den Optimisten gewechselt und hat erklärt warum: „Ich habe unterschätzt, wie viele rote Linien die Fed überschreiten und wie weit sie gehen würde“.

Keine Rendite-Alternativen zu Aktien mehr

Mit anderen Worten: Nicht nur er, sondern viele andere haben die Kurserholung verpasst, weil sie die machtvollen Reaktionen der Notenbanken und auch der Regierungen nicht einkalkuliert hatten. Sie haben den alten Wall-Street-Spruch nicht beherzigt, der da lautet: „Handle nie gegen die Fed.“ Die weltweite Geldflut aber ergießt sich im ersten Schritt nur zum kleineren Teil über die reale Wirtschaft. Zuerst fließt sie immer an die Finanzmärkte. Und da gibt es seit der Coronakrise immer weniger Alternativen zu Aktien. Denn in den USA, dem einzigen großen Industriestaat, in dem es Anfang des Jahres noch nennenswerte Zinsen gegeben hatte, ist der Leitzins im März auf 0 – 0,25% gesenkt worden. Und die Fed hat am 10. Juni angedeutet, dass sie die Zinsen frühestens 2022 anheben werde. In Deutschland und den anderen Euroländern sind die Leitzinsen und die Renditen vieler Staatsanleihen ja längst negativ, Bankeinlagen und Anleihen sind also keine Renditekonkurrenz zu Aktien. Vor allem Großanleger bauen deshalb den Anteil von Aktien im Depot zulasten der Anleihen aus.

Zur guten Stimmung an den Aktienmärkten haben auch die gewaltigen Hilfsmaßnahmen der Regierungen beigetragen. Der IWF hat sie für die Zeit bis Anfang Mai auf rund 8 Billionen Dollar beziffert. Zählt man die Konjunkturpakete dazu, die weltweit in Planung sind – von den USA über China und Japan bis zur EU und Deutschland – komme ich auf mindestens 15 Billionen Dollar. Die Regierungen haben, insbesondere mit ihren massiven Liquiditätshilfen, die Pleiten vieler Firmen verhindert und damit auch Bankenkrisen vermieden, die bei früheren Rezessionen fast immer als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Auch die Politik hat also dazugelernt. Und nicht zuletzt ist es die Aussicht auf eine Normalisierung der Wirtschaftstätigkeit im Laufe dieses Jahres, die zum Optimismus beiträgt. Da die Börsenentwicklung dem realen Wirtschaftsverlauf in der Regel um sechs bis neun Monate vorauseilt, gehen die Anleger demnach von einer Stabilisierung der Konjunktur Ende 2020/Anfang 2021 aus.

Natürlich dürfen wir trotz der ungeheuren Hilfsmaßnahmen von Notenbanken und Regierungen die Risiken nicht ausblenden: Gefahren gehen vor allem von einer möglichen zweiten Corona-Welle und den zunehmenden Spannungen zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten USA und China aus. Und auch der sich zuspitzende US-Wahlkampf zwischen Trump und Biden birgt Risiken. Die Börsen werden deshalb weiterhin volatil, also von starken Kursschwankungen geprägt sein.

Nachzügler der letzten Jahre holen auf

Welche Aktien aber sind in dieser von Notenbank- und Regierungsgeld getriebenen Liquiditäts-Hausse favorisiert? Ich rate dazu, nicht Einzelwerte zu kaufen, weil in der unsicheren Zeit niemand genau wissen kann, wer am meisten von den Konjunkturpaketen und dem Abbau der Lock Downs profitieren wird und welches Management die Chancen entschlossen wahrnimmt, die sich durch den Neustart und den Strukturwandel ergeben. Auch aus diesen Gründen geben die bewährten Bewertungskennzahlen wie KGV und Dividendenrendite zurzeit wenig Anhaltspunkte für Anleger. Besser ist es deshalb, auf breite Indizes zu setzen, also ETFs, börsengehandelte Indexfonds zu bevorzugen. Und hier dürften die Bereiche in nächster Zeit am besten abschneiden, die in den vergangenen Jahren hinterher gehinkt sind: Value-Aktien/Dividendenwerte, Small Caps (Nebenwerte) und Emerging Market-Aktien. In den letzten Wochen haben diese Segmente ja bereits mit einer beeindruckenden Aufholjagd begonnen. Interessante ETFs (und natürlich viele Informationen mehr) finden Sie übrigens im Tabellenteil meines im April aktualisierten Bestsellers „Die Revolution der Geldanlage“.

Ein gutes Omen liefert die Statistik

Zum Schluss nochmals ein Blick in die Statistik: Der rasante Kursanstieg der letzten 50 Börsentage ist ein gutes Omen: Die amerikanische Analysefirma LPL Research hat ausgerechnet, dass der S&P 500 immer dann, wenn die Kurse innerhalb von 50 Tagen um mehr als 20% geklettert sind, nach einem halben Jahr und auch nach einem Jahr höher standen als am Ende der 50 Tage. Im Durchschnitt von insgesamt acht derartigen Rallyes seit 1975 hat der S&P 500 nach sechs Monaten um weitere 10,2% zulegt, nach 12 Monaten sogar um 17,3%!

Bild: Federal Reserve