Interviews

Euro am Sonntag: Herr Heller, Sie haben zuletzt einige Monate in den USA verbracht. Wie würden Sie denn die Stimmung in den Vereinigten Staaten charakterisieren?
Gottfried Heller: Ich bin ja jedes Jahr in den USA, um den kalten Wintermonaten in Deutschland zu entfliehen. Aber so gespalten wie dieses Mal habe ich das Land und die Gesellschaft noch nie erlebt. Donald Trump als Präsident polarisiert die Menschen so stark wie kein Präsident vor ihm, von Richard Nixon vielleicht abgesehen.

Nixon musste nach Watergate zurücktreten. Erwarten Sie Ähnliches für Trump? Ein Teil der republikanischen Partei setzt sich ja schon von ihm ab.
Das ist richtig. Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Paul Ryan, der hochrangigste Politiker im US-Kongress, wird nicht mehr kandidieren, genauso wie über 40 weitere republikanische Abgeordnete. Denn die Partei steht angesichts der niedrigen Umfragewerte von Trump stark unter Druck. Als Folge könnte sie im Herbst bei den Zwischenwahlen die Macht an die oppositionellen Demokraten verlieren. Dann wäre Trump eine „lame duck“ („lahme Ente“; Anmerkung der Redaktion).

Würde das die US-Börsen belasten?
Im Gegenteil: Die Geschichte hat gezeigt, dass die besten Börsenjahre die waren, in denen die Partei des Präsi­denten nicht auch noch die Macht im Kongress hatte – wenn also ein Patt herrschte. So gesehen, kann man die Absetzbewegungen mit einer Portion Optimismus betrachten.

Wie beurteilen Sie die Wirtschaftspolitik Trumps? Welche Akzente setzt er?
Man muss bei Trump die Person von der Sache trennen. Er ist zwar ein vulgärer Rüpel, aber er hat erstens eine dramatische Senkung der Unternehmensteuern von 35 auf 21 Prozent durchgesetzt. Zweitens hat er im Gegensatz zu Europa die Regulierungen zurückgedrängt. Er hat in der Sache einiges Richtige auf den Weg gebracht, das der US-Wirtschaft und -Börse sehr nützt. Und wir Börsianer schauen mehr die Fakten an als die Person.

Viele deutsche Anleger schauen dem Treiben Trumps aber mit Entsetzen zu und erwarten einen Crash der Börse.
Schon der Römer Tacitus hat vor über 2000 Jahren gesagt: „Die Germanen sind sehr mutige Leute, haben aber eine ungewöhnliche Zukunftsangst.“ Es gibt drei ganz konkrete Gründe, warum gerade die Deutschen so sind und um die Börse lieber einen Bogen machen. Erstens haben sie nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von nur zwei Generationen zweimal fast ihr ganzes Vermögen verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dann verständlicherweise alles Furore gemacht, was das Wörtchen „sicher“ enthielt: vor allem die Lebensversicherungen. Das war dann auch das Hauptanlage­vehikel.

Und der dritte Grund?
Und das Dritte war, dass die Politik – mit Ausnahme von Ludwig Erhard – nie der Aktie das Wort geredet hat. Ganz im Gegenteil: Sie wurde die meiste Zeit über steuerlich benach­teiligt und als angebliches Spekula­tionsinstrument gebrandmarkt.

Sie haben sich Ihr Leben lang für die Aktie als Instrument der Altersvorsorge eingesetzt. Welche Bilanz ziehen Sie heute?
Mein langjähriger, vor 18 Jahren verstorbener Geschäftspartner André Kostolany und ich haben schon 1974 damit begonnen, in Seminaren für die Aktie als Altersvorsorge und zur Vermögensbildung zu werben. Mehr als 40 Jahre später haben wir immer noch gerade mal knapp acht Prozent Aktionäre, bei einem Geldvermögen von 5,7 Billionen Euro in Deutschland – 80 Prozent davon liegen auf Geld- und Versicherungskonten praktisch mit null Prozent Zinsen. Deutschland hat heute unter allen Industrieländern die einfallsloseste und unproduktivste Anlagestruktur, mit der Folge, dass Deutsche viel weniger mit ihrem Geld erwirtschaften als die Bürger der meisten anderen Industriestaaten.

Frustriert es Sie nicht manchmal, wenn Sie sich seit 50 Jahren für die Aktie einsetzen und es ändert sich nichts an der Aktienkultur in Deutschland?
Frustrierend ist das schon. Es lohnt sich aber nicht, sich zu ärgern. Ich habe zum Schreibwerkzeug gegriffen, weil es mir einfach nicht in den Kopf will, dass es so bleiben soll. Ich bin nicht mehr im Tagesgeschäft, ich spiele aber auch kein Golf, gehe nicht oft auf Kreuzfahrten. Vor einiger Zeit habe ich den US-Professor Arthur Laffer getroffen, den früheren Wirtschaftsberater des US-Präsidenten Ronald Reagan. Und ich habe ihn gefragt, arbeiten Sie eigentlich immer noch? Er sagte: „Ich spiele kein Golf und mache auch sonst nichts, was mit Freizeit zu tun hat. Was soll ich sonst machen als arbeiten?“ So sind sie, die Amis.

Welche Fehler hat die Politik in all den Jahren gemacht?
In der staatlich geförderten Vermögensbildung spielte die Aktie nie eine Rolle. Dafür Bausparen, Kontensparen und Versicherungssparen. Die Aktie wurde stets als zu spekulativ betrachtet. Aber die Aktie ist nur kurzfristig riskant. Je länger die Zeitachse ist, umso weniger riskant wird ein breit aufgestelltes Depot. Historisch betrug die Wahrscheinlichkeit für einen Gewinn beim DAX in einem Zeitraum von zehn Jahren nahezu 100 Prozent. Die durchschnittliche Rendite betrug zehn Prozent. Bemerkenswert ist, dass die langfristigen Ergebnisse in den USA, basierend auf 92 Jahren US-Kapitalmarktgeschichte, nahezu identisch sind, sowohl was die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns als auch die Rendite betrifft.

Was bedeutet das alles für die Altersvorsorge in Deutschland?
Ich glaube, dass die Altersvorsorge in Deutschland auf eine Katastrophe zusteuert. Diejenigen, die sich ausschließlich auf eine staatliche Altersvorsorge verlassen, werden davon kaum leben können. Gleichzeitig müssen sie davon ausgehen, dass die fast neunjährige Nullzinsphase noch eine Weile so weitergeht, ihr in Zinsanlagen liegendes Geld also entwertet wird. Umso zwingender wäre es, die produktivste Anlageform zu nutzen. Stattdessen hat man Aktien, die nun einmal langfristig die mit Abstand höchsten Erträge bringen, mit den neuen Regulierungen wie der EU-Finanzmarktrichtlinie Mifid II noch stärker stranguliert. Man schüttet geradezu das Kind mit dem Bade aus.

Welche Lösung sehen Sie?
Als Ausweg aus dieser unerträglichen Überregulierung bieten sich vortrefflich die Exchange Traded Funds (ETF), also börsengehandelte Indexfonds, an, die eben nicht diese detaillierten Risikoeinschätzungen und Einzelaktien-Analysen benötigen. Ein Index ist ein Index, der einen ganzen Markt abbildet. Gerade in diesen unruhigen Zeiten ist Stockpicking ohnehin schwierig. Die Steuerreform in den USA begünstigt einige Firmen mehr und einige weniger, manche früher, andere später. Und das weltweit. Für jeden Analysten ist da eine exakte Beurteilung schwierig. Daher sind ETFs eine risikoärmere und viel nervenschonendere Angelegenheit als Stockpicking.

Welche Vorzüge bietet ein Investment in einen Index, etwa den DAX?
Ein Index ist ja schon eine Vorauswahl, eine Elite. Und der Index lebt. Im DAX sind nur noch elf der Werte drin, die bei seinem Start 1988 dabei waren. Gute Aktien werden eingewechselt, die altersschwachen fliegen raus. Gleichzeitig kauft man mit einem Index auch einen ganzen Korb, der die Risiken dämpft. Je breiter die Streuung, umso geringer das Risiko. Und was die Profitabilität angeht, übertrumpfen die ETFs auf längere Sicht von vier bis fünf Jahren die meisten aktiv gemanagten Fonds. Das lässt sich eindeutig nachweisen.

Sind Indizes nicht auch schon selbst zu sehr gewichtet? Und wäre es nicht sinnvoll, beispielsweise in gleichgewichtete Indizes zu investieren?
Die Gewichtung erfolgt nach dem Börsenwert, der Marktkapitalisierung. Große Unternehmen werden also bevorzugt. Deshalb schlage ich ja auch vor, eine Gleichgewichtung von Nebenwerten und großen Werten im Depot anzustreben. Das hat zur Folge, dass die Nebenwerte in der Gewichtung hochgestuft und die großen Werte heruntergestuft werden. Langfristig, auch das ist bewiesen, bringen Aktien kleinerer Unternehmen deutlich höhere Renditen als die großer. Eine Gleichgewichtung steigert deshalb langfristig die Gesamt­renditen.

Und wie schätzen Sie derzeit die Lage für kurzfristig orientierte Investoren ein, nachdem die Märkte sehr volatil ­geworden sind?
Für die kurzfristig orientierten Inves­toren gilt: Wir leben in einer volatilen Zeit, und wir leben tatsächlich in einer Zeitenwende. Wir kommen aus einer 35-jährigen Zinssenkungsperiode, und wir gehen in eine Zinsanstiegsphase. Staatsanleihen sind trotzdem vorläufig noch keine Konkurrenz zu Aktien. Aber der Geldregen der Notenbanken lässt nach. Die US-Fed hat schon 2015 damit begonnen, die Leitzinsen anzuheben, die EZB muss noch abwarten, was dem problematischen Euro geschuldet ist.

Welche Folgen hat das?
Wenn man es mit dem Bergsteigen vergleicht: Es ist eine bekannte Tatsache, dass die schlimmsten Unfälle nicht beim Aufstieg, sondern beim Abstieg passieren. Das ist bei dieser Geldsituation nicht anders. Ich vermute, dass die Notenbanken, anstatt sich auf der res­triktiven Seite zu irren, in nächster Zeit sich lieber auf der lockeren Seite der Geldpolitik irren wollen, um keinen Absturz der Konjunktur und keinen Crash an den Börsen zu riskieren. Die Spielräume, die sie sonst in Krisenzeiten für Zinssenkungen hatten, haben sie jetzt aber nicht mehr.

Was heißt das konkret?
Das führt zu schwankungsreicheren Börsen. Gleichzeitig bleibt das Wirtschaftswachstum, auch wegen der weltweit hohen Verschuldung, moderat. Das ist jedoch für die Aktienmärkte allemal besser als eine boomende Wirtschaft. Aber wir ignorieren derzeit völlig, dass wir wieder mehr Inflation bekommen werden, und sie kommt auf leisen Sohlen daher. Der Ölpreis hat sich in zwei Jahren mehr als verdoppelt. Auch die Löhne beginnen stärker zu steigen. Dazu kommen die US-Steuersenkungen mitten in einer bereits sich erhitzenden US-Konjunktur mit Vollbeschäftigung.

Wie lautet Ihr Rat?
Unter dem Strich heißt das, dass die Börsen zwar heftiger schwanken werden, aber dass ein Crash nur droht, wenn es zu maßlosen Übertreibungen käme. Das ist derzeit nicht in Sicht. Jedenfalls sollte man in Aktien investiert sein, schon um sich vor der Inflation zu schützen und vom Wachstum der Wirtschaft und der Unternehmensgewinne zu profitieren.

Gibt es bestimmte Aktien und Branchen, die Ihnen in diesem Umfeld ­besonders interessant erscheinen?
Wer einen mittelfristigen Horizont hat, also zwei bis drei Jahre, für den könnten weiter die Cashcows interessant sein, also Nahrung, Getränke, Konsum generell wie etwa Nestlé, Unilever und andere, die nebenher noch eine ordentliche Dividende zahlen. Das ist auch die Strategie von Warren Buffett. Er hat immer in die Cashcows investiert, aber nicht in die zyklische Autoindustrie, nicht in Firmen mit hohen Investitionen, sondern er hat Versicherungen, Nahrungsmittel, Getränke und Konsum­artikel gewählt. Stockpicking ist aber auch schwieriger geworden, wegen Trumps rabiatem Verhalten in Handelsfragen. Der zuletzt schwächere Euro könnte kurzfristig auch wieder die zyklischen deutschen Aktien aus dem exportlastigen Auto- und Maschinenbau ins Rampenlicht rücken.

 

Bild: Khongtham/Adobe Stock