Kurz vor dem Jahreswechsel hat das Anlegermagazin Börse Online ein Interview mit mir geführt, das auch auf boerse-online.de erschienen ist. Es ging – natürlich – vor allem um die Chancen und Risiken im Börsenjahr 2022. Im Mittelpunkt des Interviews standen vor allem die Folgen der Corona-Pandemie und die Auswirkungen der bevorstehenden Zinswende in den USA auf die Finanzmärkte.
Wir haben Börsenexperte Gottfried Heller gefragt, welche Themen die Aktienmärkte 2022 beschäftigen dürften, wie Anleger ihr Depot inflationssicher aufstellen können und wie es um die Zinspolitik der US-Notenbank Fed und der Europäischen Zentralbank steht. Von Isabell Walter
BÖRSE-ONLINE.de: Das Börsenjahr 2021 stand ganz im Zeichen von Corona, der Bundestagswahl, Inflation, Lieferengpässen und DAX-Rekorden. Wie haben Sie das abgelaufene Jahr erlebt?
Gottfried Heller: Bis in den Herbst hinein ist alles so gelaufen, wie es zu erwarten war: Die Wiedereröffnung der Volkswirtschaften hat die Konjunktur sprunghaft verbessert und die Gewinne der meisten Unternehmen so steil nach oben getrieben wie selten zuvor. Da gleichzeitig die Notenbanken und die Regierungen weiterhin so immense Geldsummen wie nie zuvor in die Wirtschaft gepumpt haben, konnten die Aktienmärkte eigentlich nur nach oben gehen. Die Achillesferse ist aber, dass es zum Teil zu maßlosen Kursübertreibungen gekommen ist, insbesondere bei den großen US-Technologiekonzernen und bei Pharmawerten. Das gleiche gilt für viele Neuemissionen und natürlich für die Bitcoin-Hysterie. Ab Mitte September bin ich etwas vorsichtiger geworden, weil die Inflation viel stärker angezogen hat, als es die Notenbanker prognostiziert hatten. Und weil offensichtlich wurde, dass die Fed und die EZB den Preisanstieg auf über sechs Prozent in den USA und über fünf Prozent in Deutschland auf die leichte Schulter genommen und kleingeredet haben. Auch das Wiederaufleben der Pandemie und das Auftreten der neuen Omikron-Variante haben mich zu mehr Vorsicht veranlasst.
Welche Auswirkungen hat die Zuspitzung der Pandemie für die deutsche Wirtschaft und wie stark schlägt das weiter auf die Preise durch?
Es ist jetzt schon klar, dass sich das Wachstum im Schlussquartal 2021 deutlich verlangsamt hat und dass das 1. Vierteljahr 2022 noch schwächer ausfallen wird. Wie es dann weitergeht, hängt wesentlich davon ab, wie schnell sich die Omikron-Variante ausbreitet, wie gefährlich sie ist und wie schnell sie bekämpft werden kann. Da tappen ja auch die Experten noch im Dunkeln. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir eine Stagnation oder gar Rezession vermeiden können. Denn die Politiker, die Unternehmen und die Verbraucher haben gelernt, mit der Pandemie zu leben und den wirtschaftlichen Schaden zu minimieren. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Die langsamere Konjunktur-Gangart wird auch die Inflation zunächst etwas dämpfen, weil die Energie- und Rohstoffpreise vorerst nicht mehr so schnell steigen dürften und ein Teil der Lieferketten weniger überlastet werden.
Ist der gegenwärtige Inflationsschub vorübergehend oder länger andauernd?
Den vorläufigen Inflationshöhepunkt könnten wir wegen der Konjunkturabkühlung nahezu erreicht haben. In Deutschland kommt ja noch hinzu, dass ab Januar 2022 der Vergleichsmaßstab nicht länger durch die Mehrwertsteuersenkung des zweiten Halbjahrs 2020 verzerrt wird. Das reduziert die Inflationsrate 2022 automatisch um ein paar Zehntel Prozentpunkte. Aber ich rechne damit, dass wir international und in Deutschland noch länger auf einem deutlich höheren Preisniveau bleiben werden als es den Notenbanken lieb ist. Sobald Omikron seinen Schrecken verliert, werden Nachholeffekte die Konjunktur wieder antreiben, und das kann neue Engpässe und damit Preissteigerungen hervorrufen. Eine Inflationsrate deutlich oberhalb der von den Notenbanken angestrebten zwei Prozent wird uns also noch lange verunsichern, zumal auch die Löhne und Gehälter mit Verzögerung nach oben folgen dürften – je länger die Inflation hoch bleibt, desto stärker.
Vor allem der Chipmangel und die allgemeinen Lieferengpässe haben das abgelaufene Jahr belastet. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
Chipmangel und Lieferengpässe dürften zwar konjunkturbedingt etwas nachlassen, aber trotzdem das Wachstum weiter belasten. Ansonsten sind alle Blicke auf die Fed und die EZB gerichtet. Christine Lagarde hat zwar mehrmals beteuert, dass es 2022 keine Zinserhöhungen geben werde, und die neuen Pandemie-Probleme lassen das als wahrscheinlich erscheinen. Aber in punkto Liquidität wird die EZB den Hahn aufgrund der weit über dem Ziel liegenden Inflationsrate etwas zudrehen müssen, um ihre Glaubwürdigkeit nicht ganz einzubüßen. Wie stark und wie schnell sie das machen wird, ist noch unklar. Das ist ein Unsicherheitsfaktor für die europäischen Märkte. Niemand kann vorhersagen, wie stark sich in dieser Situation eine Straffung der Geldpolitik auf Wirtschaft und Börsen generell auswirken wird. Die Notenbanker betreten hier Neuland, denn so gewaltige Liquiditätsmengen und so niedrige Zinsen gab es noch nie. Von hier aus ist der Weg zur Normalität voraussichtlich mit vielen Unwägbarkeiten und unerwarteten Problemen gepflastert. Und die ersten Schritte sind vermutlich die gefährlichsten und werden an den Börsen besonders kritisch beobachtet.
Welche Themen dürften die Börsen 2022 außerdem beschäftigen?
Neben den Hauptthemen Corona, Konjunktur, Inflation und Geldpolitik spielt in Deutschland sicherlich eine Rolle, wie schnell die neue Regierung in die Gänge kommt und welche ihrer Vorhaben sie zuerst verwirklicht. International sind alle Augen vor allem auf die geopolitischen Konflikte der westlichen Industrienationen mit China und Russland gerichtet.
Lieferengpässe waren 2021 ein allgegenwärtiges Thema. In ersten Bereichen ist eine leichte Erholung zu spüren. Wie geht es weiter?
Die Abschwächung der Weltkonjunktur wird sicherlich ihren Teil dazu beitragen, um die Probleme vorübergehend zu mildern. Hinzu kommt, dass im Chip-Bereich, aber auch bei anderen Produkten eilig Kapazitäten aufgebaut werden, die ebenfalls nach und nach zu einer Entspannung beitragen sollten. Aber sobald die derzeitigen Pandemie-Beschränkungen reduziert werden und die Angst vor Omikron schwindet, erwarte ich eine erneute kräftige Wirtschaftsbelebung. Und die dürfte das Risiko von Engpässen dann vermutlich wieder vergrößern.
Die US-Notenbank Fed hat bereits seit längerem eine Zinswende auf ihrer Agenda stehen. Welche Schritte erwarten Sie als nächstes?
Bevor es zu einer Zinswende kommt, muss die Fed erst ihre Wertpapierkäufe völlig zurückfahren. In ihrer November-Sitzung hat das Beschlussgremium FOMC ja bereits eine Reduzierung der Anleihekäufe, das sogenannte Tapering beschlossen. Die ursprünglich 120 Milliarden Dollar pro Monat sollen monatlich um 15 Milliarden Dollar reduziert werden. Wenn die Fed diesen Plan einhält, sind Zinserhöhungen frühestens im Sommer 2022 möglich. Ich erwarte aber, dass Fed-Chef Powell nun, nachdem er für eine weitere Amtszeit bestätigt worden ist und freie Hand hat, das Tempo des Tapering erhöhen wird. Er hat das bereits anklingen lassen, indem er, anders als noch vor wenigen Wochen, plötzlich davon ausgeht, dass die Inflation in den USA nicht nur vorübergehend ist, sondern länger andauern wird.
Powell scheint nun endlich entschlossen zu sein, den Kampf gegen die Inflation aufzunehmen. Spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Eine Verdoppelung des Tapering auf 30 Milliarden Dollar pro Monat ab Januar ist deshalb wahrscheinlich. Dann würden die Anleihekäufe Ende März 2022 komplett beendet sein, und noch vor Ende des ersten Halbjahrs könnte die Fed mit Zinserhöhungen beginnen. 2022 rechne ich nach den jüngsten Äußerungen von Powell, nun mit mindestens zwei Zinsschritten, möglicherweise auch mit drei. Aufhalten kann dies wohl nur eine deutliche Verschlechterung der US-Konjunktur im Gefolge der Omikron-Variante, wonach es im Augenblick aber nicht aussieht.
Wegen der Inflation müsste die EZB eigentlich eine restriktivere Geldpolitik fahren, will aber gleichzeitig die Konjunktur nicht ausbremsen. Wie wird die EZB weiter vorgehen?
Anders als Jerome Powell hat Christine Lagarde noch Anfang Dezember an ihrer Meinung festgehalten, dass der Preisauftrieb nur vorübergehend ist. Sie sah deshalb auch noch keine Notwendigkeit, die Zinsen 2022 zu erhöhen. Ich halte das für sehr riskant. Aber wahrscheinlich steht die EZB unter immensem politischem Druck. Denn Zinserhöhungen würden den Schuldensumpf, durch den viele Euro-Länder waten, noch gefährlicher machen.
Kann die EZB ihre lockere Geldpolitik überhaupt noch anziehen?
Einige Staaten, vor allem südeuropäische, können deutlich höhere Zinsen einfach nicht stemmen, das würde ihre Schulden unbezahlbar machen. Jetzt rächt es sich, dass sie die Nullzinspolitik nicht für einen stärkeren Schuldenabbau genutzt haben. Die kostspieligen Corona-Hilfen und -Steuerausfälle haben die Probleme seit 2020 noch erheblich vermehrt. Für die EZB gilt das gleiche wie für die Fed: Bevor sie die Leitzinsen anhebt, muss sie erst ihre Wertpapierkäufe beenden. Vermutlich wird sie nicht umhinkommen, das Kaufprogramm PEPP planmäßig im März auslaufen zu lassen. Trotz der markigen Worte von Frau Lagarde rechne ich damit, dass die EZB 2022 umsteuern muss, und in der zweiten Jahreshälfte zumindest die Negativzinsen für Banken beseitigen wird. Also auch hier eine Straffung der Geldpolitik, aber eine wesentlich moderatere als in den USA.
Die Fed startet die Zinswende und zieht die Geldpolitik an. Die EZB bleibt vorerst bei ihrem lockeren geldpolitischen Kurs. Die Notenbanken driften weiter auseinander – welche Folgen hat das?
Das wird sich zunächst auf den Devisenmärkten auswirken. Seitdem klar ist, dass die Fed mit dem Tapering noch 2021 beginnt und Zinserhöhungen 2022 in den Raum gestellt hat, ist der Dollar gegenüber dem Euro erheblich gestiegen. Ich nehme an, dass sich diese Tendenz fortsetzen wird, solange die EZB nicht umsteuert und Zinserhöhungen signalisiert. Für Europas Exporteure ist ein stärkerer Dollar eine gute Nachricht, aber er wird auf der anderen Seite den Inflationsdruck erhöhen, weil nun einmal Öl und viele andere Produkte in Dollar gehandelt werden. In den USA ist der Effekt genau umgekehrt, der starke Dollar hilft dort, die Inflation einzudämmen. Auch bei den Anleiherenditen wird das Auseinanderdriften der Geldpolitik Folgen haben. Sie werden 2022 klettern, in den USA stärker als in der Eurozone. Die Anleger werden sich bei Staatsanleihen nicht ewig mit negativen Realrenditen und dadurch mit einem Kaufkraftverlust in der Größenordnung von vier Prozent jährlich zufriedengeben. Sie werden höhere Renditen einfordern. Und das können sie umso leichter, je weniger Anleihen Fed und EZB aufkaufen.
Mit den jüngsten Gesprächen zwischen US-Präsident Joe Biden und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zeichnet sich eine erste Entspannung im Streit zwischen den beiden Handelsmächten ab. Welche Chancen sehen Sie für eine künftige Zusammenarbeit?
Keine sehr großen – leider – trotz einiger guter Ansätze in Teilbereichen. Aber es würde schon genügen, wenn sich die Spannungen nicht noch weiter verstärken. Wenn die zwei mit Abstand größten Volkswirtschaften der Welt sich wirtschaftlich mit Zähnen und Klauen bekämpfen, kann das nur negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben.
Könnten deutsche Exportfirmen von einer Entschärfung des Konflikts profitieren?
Natürlich ja, und das sehr stark. China ist ja nicht nur ein wichtiger Handelspartner, sondern vor allem auch ein Produktions- und Vertriebsstandort vieler deutscher Unternehmen. Es wird deshalb wohl ein Balanceakt für die Bundesregierung und die EU bleiben, die USA zu unterstützen, ohne die Verbindungen zu China zu sehr aufs Spiel zu setzen.
Kürzlich wurde das 550 Milliarden US-Dollar schwere Infrastrukturprogramm von Präsident Biden durch den Kongress genehmigt. Was bedeutet das für die USA und auch weltweit?
Zusammen mit dem schon zuvor verabschiedeten Paket belaufen sich die Investitionen ja sogar auf über eine Billion Dollar. Das Infrastrukturprogramm wird aber sicherlich nicht von heute auf morgen in die Tat umgesetzt, es ist auf mehrere Jahre angelegt. Sobald es richtig anläuft, wird das der Konjunktur der USA und abgeschwächt auch seiner Handelspartner einen kleinen Schub verleihen. Die geplanten Maßnahmen wie die Modernisierung von Straßen, Brücken und Häfen sowie die Verbesserung des Klimaschutzes sind recht arbeitsintensiv. Das dürfte zuerst dem amerikanischen Arbeitsmarkt zugutekommen, und damit längerfristig den US-Konsum stützen, von dem auch viele europäische Firmen profitieren. An der Wall Street werden die typischen Infrastrukturanbieter, insbesondere Bauunternehmen und ihre Zulieferer, in den Fokus der Anleger geraten, so wie das in den letzten Wochen schon ansatzweise geschehen ist. Aber auch ausländische Unternehmen haben hier durchaus Chancen. Mit ETFs auf Infrastrukturanbieter, von denen fast ein Dutzend an deutschen Börsen gehandelt werden, lässt sich der gesamte Sektor bequem und breit gestreut abdecken.
Das Vereinigte Königreich ist Anfang 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten. In den vergangenen zwei Jahren hat sich viel getan. Wie schätzen Sie die aktuelle Beziehung ein und wie geht es weiter?
Um die Beziehungen ist es nicht zum Besten bestellt. Es gibt viele Bereiche, in denen die EU und Großbritannien uneins sind oder sogar hart aneinandergeraten. Die Rolle Irlands bleibt ein Knackpunkt, und der Fischerei- und Migrationsstreit zwischen Frankreich und UK zeigt, wie schwierig die Zusammenarbeit geworden ist. Ich gehe davon aus, dass das Verhältnis gespannt bleiben wird. Großbritannien dürfte sein Heil eher in der Zusammenarbeit mit den USA und Australien suchen und weiter von der EU abrücken. Das Militärbündnis AUKUS ist ein starkes Signal dafür und ein schwerer Schlag für Frankreichs Rüstungsindustrie und längerfristig wohl auch für die EU.
Wie sollten sich Anleger in einem inflationären Umfeld positionieren?
Ich war noch nie ein großer Freund von Gold und ich bin ausgesprochen skeptisch, was die Kryptos angeht – die ja auch laut der EZB überhaupt keine Währungen sind. Aktien sind als Sachwerte generell ein guter Inflationsschutz, jetzt mehr noch als je zuvor. Warum? Weil Anleihen und andere Zinsanlagen einen so starken Kaufkraftverlust hervorrufen wie selten zuvor. Eine Ausnahme bilden nur inflationsindexierte Anleihen, von denen es aber nicht viele gibt. Wer eine positive Realrendite mit seinen Investments anstrebt – und das tut ja wohl jeder – kann auf Aktien 2022 nicht verzichten.
Der DAX wurde im September von 30 auf 40 Werte aufgestockt. Das bedeutete auch im MDAX und SDAX massive Veränderungen. Wie bewerten Sie diese Neuerungen in den ersten Monaten seit Umstellung?
Dem DAX hat es sich sicherlich gutgetan. Die Streuung ist breiter geworden, was ja auch für ETFs wichtig ist. Außerdem hat sich die Struktur mit der Aufnahme von mehr Unternehmen aus den so genannten Zukunftsbranchen verbessert. Dadurch gewinnt der DAX auch international wieder etwas mehr an Gewicht. Beim MDAX sieht es da natürlich schlechter aus. Er hat einige reizvolle Aktien verloren, entsprechend hat er sich seit der Indexumstellung etwas schwächer als der DAX entwickelt. Das ist ungewöhnlich, in der Vergangenheit hatte er deutlich besser abgeschnitten als der DAX. Beim SDAX sieht es ähnlich aus wie beim MDAX. Diese beiden Nebenwerteindizes haben aber wieder bessere Chancen als der DAX, sobald die deutsche Wirtschaft wieder eine schnellere Gangart einschlägt. Denn MDAX und SDAX sind recht konjunkturabhängig.
Mit welchem DAX-Stand rechnen Sie Ende 2022?
Er wird höher liegen als zurzeit, aber der Zuwachs dürfte geringer ausfallen als 2021. Angesichts der Vielzahl an Unwägbarkeiten, die uns 2022 erwarten, insbesondere die Wende in der Geldpolitik, halte ich es für unseriös, eine Punkt-Prognose zu machen.