Interviews

Kostolany-Partner Gottfried Heller analysiert seit 50 Jahren die Finanzmärkte. Der Buchautor und Vermögensverwalter über Time und Timing, Dax-Potenzial und Anleihenblase

FOCUS-MONEY: Gerade stand der Dax noch auf Rekordhoch, verlor aber in wenigen Tagen 400 Punkte. Kippt jetzt die Stimmung?
Gottfried Heller: Schon zuvor fehlte der Enthusiasmus. Das liegt daran, dass es in diesem Jahrhundert dreimal eine Baisse gab, ab 2000, 2008 und 2011. Das ist statistisch sehr selten, hat aber die, die sich dreimal die Finger verbrannt haben, sehr verschreckt.

Ein gebranntes Kind scheut das Feuer . . .
Na ja, die Deutschen sind auch ganz besonders schreckhaft. Deshalb steigen sie meist spät an der Börse ein und erleiden daher auch mehr Verluste als die etwas gewiefteren Anleger in anderen Ländern.

Der Dax steht bei rund 10 000 Punkten. Fühlen Sie sich als grundsätzlicher Börsenoptimist bestätigt?
Ich fühle mich nicht in meinem Optimismus bestätigt, sondern in meinem Realismus, der auf der Summe aller Faktoren beruht.

Welche Faktoren meinen Sie?
Die fiskalische und monetäre Antwort auf die letzte Krise war, dass die Notenbanken aus allen Rohren schossen und die Zinsen fast auf null gesenkt haben. Zusätzlich haben die Regierungen milliardenschwere Programme als Stützen für die Banken und die Wirtschaft aufgelegt. Damit wurde auch verhindert, dass die Realwirtschaft total abschmiert. Und zu all dem kamen tiefe Aktienkurse. In so einem Umfeld sind Aktien die erste Wahl.

Timing ist nicht so wichtig?
Nein, Time ist wichtiger als Timing. Anlegen auf Grund langfristiger Betrachtung statt der Suche nach einem richtigen Zeitpunkt ist auch risikoärmer, wie die Statistik belegt. Die hektische Kurzfristigkeit ist eine Perversion der Börse, besonders im Hochfrequenzhandel, wo es um Nanosekunden geht. Das ist wirklich Zockerei.

Der VDax, der die Schwankungserwartungen im Dax zeigt, steht bei zwölf Punkten, so niedrig wie . . .
. . . zuletzt im Jahr 2007 vor der großen Krise.

Was leiten Sie daraus ab – Beruhigung oder ein verstecktes Gefahrenpotenzial?
Dass es eine trügerische Ruhe ist. Ich sehe wieder Sorglosigkeit und Selbstgefälligkeit bei den Banken. Genau das hat kürzlich die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zu einer Warnung veranlasst, weil Banken und Versicherungen massenhaft Schrottanleihen aufkaufen. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden in Europa Schrottanleihen für 100 Milliarden Euro gekauft – mehr als im gesamten Jahr 2013.

Kann es nach dem Erreichen immer neuer Börsen- Höchststände überhaupt noch so weitergehen?
Das mit den Höchstständen ist in der Tat interessant. Seit Anfang März 2009 ist der Dow Jones um 180 Prozent gestiegen, der S&P-500 sogar um 205 Prozent. Der weltweite MSCI-World legte um 178 Prozent zu und der breite Europa-Index Stoxx-600 immerhin 172 Prozent. Wie viel Prozent waren es beim Dax, was schätzen Sie?

Etwas weniger?
In der Tat, das Dax-Plus beträgt 171 Prozent. Aber . . .

. . . das ist doch fast identisch?
Nein, eben nicht. Denn von all den Indizes ist der Dax als einziger ein Performance-Index, in den die Dividenden reingerechnet werden. Zur Vergleichbarkeit muss man den Kurs-Dax nehmen. Der ist mit gut 5000 Punkten vom Höchststand 6266 im Jahr 2000 weit entfernt.

Der Dax schneidet also am schlechtesten ab?
Miserabel! Seit 2007, also vor der Finanzkrise, weist der Kurs-Dax ein Plus von 16,3 Prozent auf, gerade mal 2,0 Prozent pro Jahr. Der Performance-Dax hat dagegen 52 Prozent gemacht, immerhin 5,7 Prozent jährlich. Aber gut zwei Drittel dieser Performance beruhen auf Dividenden, nicht auf Kurssteigerungen. Wir haben also gar nicht so eine gewaltige Hausse.

Warum ist das so?
Weil die Deutschen lieber Festgeld halten oder festverzinsliche Papiere zu höchstens zwei Prozent kaufen, statt so ein Teufelszeug wie beispielsweise eine Aktie anzufassen.

US-Fonds sind ja im Dax stark vertreten.
Eben. Dax-Firmen sind zu zwei Dritteln in der Hand von ausländischen Gesellschaften. Die deutschen Versicherer senken laufend ihren Garantiezins, weil sie mit ihren Festverzinslichen nur noch mickrige Prozente bekommen. Auf der anderen Seite halten sie nicht einmal drei Prozent Aktien. Ein Armutszeugnis für unser Land!

Wäre es sinnvoll, jetzt noch einzusteigen?
Ich denke schon, dass es noch nach oben gehen wird. Aber wenn Sie bei 10 000 Punkten einsteigen und es geht noch bis, sagen wir, 10 500, bevor es zu einer Korrektur kommt, dann haben Sie natürlich weniger Speck angesetzt als jemand, der schon länger dabei ist.

Viele meinen, die jüngsten Kursgewinne seien nicht mehr durch die realen Gewinne in der Wirtschaft gerechtfertigt. Was sagen Sie?
In den USA ist es ja so, dass die Unternehmen im Geld schwimmen. Aber auf Grund der immer noch schwachen Wirtschaft investieren sie es nicht, sondern machen Akquisitionen oder kaufen ganz massiv Aktien zurück. Nun ergibt sich ja die Bewertung – das Kurs-Gewinn-Verhältnis – dadurch, dass man die Kurse durch die Gewinne je Aktie teilt. Weniger Aktien im Umlauf verändern die Rechnung, weil der Gewinn je Aktie steigt. So ergibt sich ein niedrigeres KGV, das eigentlich höher wäre. In Deutschland, wo es das kaum gibt, sind wir da wohl näher an der Realität – und unser KGV ist niedriger.

Für Vermögensverwalter Bert Flossbach darf das KGV bei Qualitätsaktien wie Nestlé wegen der dauerhaft niedrigen Zinsen grundsätzlich höher sein.
Das ist richtig. Warren Buffett hat mal sinngemäß gesagt: Ich kaufe mir keine billige Bruchbude, sondern ein Schloss mit einem Burggraben, der vor Eindringlingen – will heißen: der Konkurrenz – schützt. Ich zahle also lieber etwas mehr, wenn es sich um ein wunderbares langfristiges Geschäftsmodell mit Alleinstellungsmerkmal handelt, das nicht einfach kopiert werden kann.

Die Börsen sind also nicht zu teuer?
Nein, nicht wirklich. Wir haben kein Dax-KGV von neun mehr, aber 13,7 liegt noch unter dem langjährigen Schnitt von 16 und weit unter einem KGV von 33, wie wir es im Jahr 2000 hatten. Wenn wir 2015 ein Plus der Unternehmensgewinne von zehn Prozent annehmen, dann liegt das KGV unter 13. Außerdem gibt es keinerlei Euphorie. Es knallten keine Sektkorken, als der Dax bei 10 000 Punkten stand.

In den USA gibt es teilweise schon Euphorie …
Die Amerikaner sind auch früher eingestiegen, haben viel von der Hausse mitgenommen, und deshalb ist der Stimmungspegel dort allgemein höher. Wenn ich einen Pensionsplan mit einem Viertel Aktienquote habe wie in den USA oder 30 Prozent wie in Großbritannien und noch die Altersvorsorge-Sparpläne dazurechne und dann fast auf 50 Prozent Aktienquote komme, dann habe ich ja auch jeden Grund zur Freude.

Die Börsenhöchststände haben viel mit der Politik der Notenbanken zu tun. Glauben Sie, dass diese weiterhin alles so steuern können, wie sie es wollen?
Das glaube ich absolut nicht. Die Notenbanken sind meist „behind the curve“, wie das die Amerikaner nennen, also hinter der Welle. In ihren Einschätzungen lagen sie oft falsch. So hat die Fed die Subprime-Krise nicht rechtzeitig erkannt und als sie sie erkannte, hat sie sie in ihrer Dimension völlig falsch eingeschätzt – also etwa, welche Summen an der Lehman-Pleite hingen.

Wo sehen Sie aktuell Fehleinschätzungen?
Es gibt klar eine von der Fed kreierte Anleihenblase. Das Modell von Bernanke und jetzt Yellen besteht darin, dass man speziell die 30-jährigen amerikanischen Staatsanleihen kauft und auf diese Weise die Kurse in die Höhe treibt und die Zinsen senkt. Das tun sie, weil die 30-jährigen Staatsanleihen der Indikator für Hypothekenzinsen sind. Bernanke hat immer angestrebt, dass die Hypothekenzinsen 3,5 bis vier Prozent betrugen. Damit hat er den Immobilienmarkt aus dem Sumpf gezogen, was man nach einem Plus von 25 Prozent in drei Jahren feststellen kann. Gleichzeitig mit der Überliquidität und den niedrigen Zinsen und dem Anlagenotstand hat er auch die Börsen angeschoben. In der Summe ergibt das einen Wohlstandseffekt, den er so kreiert hat. Weil die Leute einfach wieder mehr auf dem Konto hatten, kauften sie auch wieder. Die Konjunktur ist also über den Konsum und nicht über Investitionen in Gang gekommen.

Bisher funktioniert es . . .
Natürlich. Aber das ist brüchig, kein Fels. Es ist eher ein wackliger Stuhl auf drei Beinen und kein Fundament, auf das ich ein Haus bauen würde. Es fehlen die Investitionen der Unternehmen, und es hapert am Export. Daher wird die Geldpolitik erst mal locker bleiben.

Die Tapering-Ankündigung, also aus dem Anleihenaufkaufprogramm langsam auszusteigen, hatte doch deutliche Reaktionen an der Börse hervorgerufen. Kann die Börse nicht schnell kippen, wenn die Fed mal unerwartet agiert? Oder etwa Großbritanniens Notenbank?
Letzteres halte ich sogar früher für möglich. Aber ich glaube nicht an größere Gegenreaktionen, weil gern vergessen wird, dass Tapering ja nicht heißt, dass kein Geld mehr fl ießt. Es wird kein Geld abgezogen, sondern nur etwas weniger Liquidität hineingepumpt.

Auch die Fed-Präsidentin hat betont, dass die Zinsen lange niedrig bleiben werden.
Wissen Sie, die Notenbank weiß auch nicht mehr als wir und muss weiter auf Sicht fahren. Natürlich hat die Fed mehr Daten und einen breiteren Überblick. Aber sie kann auch nicht sagen, wo in neun Monaten der Zins stehen wird, weil das von äußeren Umständen wie Dollar- Entwicklung, Weltwirtschaft, Rohstoffpreisen und Infl ation abhängt. Diese exogenen Einfl üsse werden von den Märkten gemacht und sind nicht wirklich projizierbar. Insofern ist das ein Beruhigungsversuch, keine Garantie.

Droht ein Moment, an dem alles verpufft, an dem die Zentralbanken ohnmächtig sind, die Entwicklung zu steuern?
Ich glaube, momentan ist das größere Problem, dass die Liquidität, die um die Welt schwappt, eingefangen wird. Ich bezweifle, dass das gelingt. Und die Folge davon ist auch klar: Inflation.

Aber die Inflationsrate ist doch schon länger niedrig. Zu niedrig, sagen viele und befürchten im Gegenteil eine Deflation mit fallenden Preisen.
Das Deflationsgerede ist Unsinn. Was wir haben, ist eine gewollte Disinflation in den Südländern infolge der Sparpolitik und der Lohn- und Preissenkungen. Aber schon der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman hat gesagt: Wenn zu lange zu viel Geld im Umlauf ist, das nicht im Einklang steht mit dem Bedarf der Realwirtschaft, dann führt das zu Inflation. Derzeit ist das Mehrfache dessen, was gebraucht wird, im Umlauf. Die Rücknahme wird eine Gratwanderung, wenn die Nachfrage weltweit anzieht.

Wo erkennen Sie denn Inflationstendenzen?
Die Inflation kommt aus verschiedenen Ecken. Da ist zum einen die Nullzins-Liquiditätspolitik der Notenbanken, dann die steigenden Preise bei Immobilien und Rohstoffen auf Grund der Geldflut. Nicht zu vergessen die ungeheure Staatsverschuldung, die eine laxe Haltung gegenüber der Inflation fördert, weil sich der Staat so ja elegant entschulden kann. Außerdem werden die billigen Importe aus China wegen höherer Löhne teurer. Die jüngsten Tariferhöhungen schlagen nach sechs bis neun Monaten ebenfalls durch. Nicht zuletzt die Forderungen aus Italien und Frankreich, den Fiskalpakt zu lockern. Wenn das durchginge und den Ländern sagen wir mal zwei Prozent Inflation erlaubt würden, dann wären das bei uns drei bis vier Prozent. All das wird Inflation mit sich bringen.

Sehen Sie noch weitere Gefahrenherde?
Neben den politischen Unruheherden Ukraine, Nahost und Irak besorgt mich wirklich die Blase in den Anleihen. Zehnjährige US-Staatsanleihen sind mindestens 20 Prozent überbewertet, 30-jährige sogar deutlich mehr. MONEY: Wird diese Blase platzen? Heller: Ich hoffe, dass die Luft langsam entweicht und nicht mit einem Knall. Die Notenbanken arbeiten auch sicher konzertiert daran. Aber leider geht meistens auch schief, was schiefgehen kann.

Sie rechnen mit einem Crash?
Nein, ich rechne nicht mit einem Crash. Aber mit Korrekturen schon.

 Und wann?
Die Sommermonate sind ja traditionell schwieriger und schwankungsreicher, und der September war immer schon der schlechteste Monat …

Was raten Sie Anlegern?
Wer bisher nicht investiert ist, der könnte eine solche Korrektur zum Einstieg nutzen.

Was kaufen Sie in dieser Lage?
Ich empfehle grundsätzlich, ein strukturiertes ETF-Aktiendepot mit einem Sicherheitsnetz, wie ich es in meinem Buch darlege. Wichtig ist, international zu investieren, weil das die Rendite erhöht und das Risiko senkt. Value-Aktien und Nebenwerte sowie Dividendentitel und die Schwellenländer liefern langfristig eine bessere Rendite und sollten daher übergewichtet werden.
HANS SEDLMAIER

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