Interviews

Wie geht es an den Börsen nach dem hochvolatilen Jahresstart weiter? Wo liegen die Chancen und wo die Risiken dieses Börsenjahrs? Welche Auswirkungen wird die Zinswende in den USA auf die Finanzmärkte haben. Und wie sollen die Anleger angesichts inflationärer Tendenzen und geopolitischer Spannungen, reagieren? Über diese Fragen und noch mehr ging es in dem Interview, das Dieter W. Heumann für die Wochenzeitung VDI nachrichten mit mir geführt hat.

Die Verschuldung der südlichen Euroländer bereitet Börsenlegende Gottfried Heller Kopfzerbrechen. Im Interview mit VDI nachrichten sagt er: „Wären die Zinsen nicht schon seit vielen Jahren nahe null und würde die EZB nicht einen großen Teil der Staatsanleihen aufkaufen, hätten einige Staaten schon längst erhebliche Probleme, manche wären vermutlich pleite.“

VDI nachrichten: Herr Heller, die deutsche Börse hat den Aktionären im letzten Jahr große Freude bereitet: Der Dax stieg bis zum Jahresende um fast 16 %. Was waren die wesentlichen Gründe?
Gottfried Heller: Das war die zunächst sehr kraftvolle weltweite Konjunkturerholung nach der Coronarezession. Die extrem expansive Geldpolitik und weitere Hilfsprogramme der Regierungen haben den Wirtschaftsaufschwung in Gang gehalten. Das hat die Unternehmensgewinne nach dem Rückschlag 2020 geradezu explodieren lassen. Beim S&P 500 sind sie 2021 um über 50 % gestiegen, beim europäischen Stoxx 600 sogar um fast 70 %. Hinzu kommt, dass Zinsanlagen mit der kräftig zunehmenden Inflation noch uninteressanter geworden waren. Die Realrenditen sind so tief ins Minus gerutscht wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Allerdings blieb 2021 hierzulande der erwartete konjunkturelle Post- Corona-Boom aus. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg lediglich um 2,7 % …
Nicht nur in Deutschland hat die Wirtschaft im Jahresverlauf an Fahrt verloren. Angesichts mehrerer Coronawellen, der Unterbrechung vieler Lieferketten, insbesondere durch den Chipmangel sowie stark gestiegener Kosten für Energie und Rohstoffe hat sich die Konjunktur sogar noch recht achtbar aus der Affäre gezogen. Das lag auch daran, dass die Welt gelernt hat, mit der Pandemie zu leben und damit umzugehen, ohne die wirtschaftlichen Schäden zu sehr ausufern zu lassen.

Der Start ins Börsenjahr 2022 war dagegen eher verhalten?
Nach dem verhaltenen Jahresstart ist es ja ab Mitte Januar steil bergab gegangen. Auslöser war die Ankündigung der Fed, 2022eventuell vier Zinserhöhungen zu planen und die massivenAnleihekäufe schon im März zu beenden. Dann kam noch die Verunsicherung durch die Russland-Ukraine-Krise hinzu. Anscheinend hat die plötzlich so straffe Haltung der zunächst sehr zögerlichen Fed viele Anleger auf dem falschen Fuß erwischt. Mich und so manche andere übrigens nicht. Ich habe es schon im Spätsommer als Fehler angeprangert, dass die Notenbanken angesichts der galoppierenden Inflation zu lange mit einer Reaktion gewartet haben – und dann wahrscheinlich zu scharf auf die
Bremse treten müssten. So ist es jetzt in den USA gekommen. Die Fed-Wende ist eine Zäsur für die Finanzmärkte. All das, was durch die nie dagewesene Liquiditätsflut der letzten zwei Jahre spekulativ
nach oben getrieben worden ist, muss jetzt die Folgen mittragen, ob Bitcoin und Co., Schrottanleihen und -immobilien oder auch überbewertete Aktien, insbesondere aus der Technologiebranche.

Auch im Euroraum steigt die Inflation kräftig, doch die EZB bleibt untätig. Wie lange kann sie durchhalten?
Bis zuletzt hat EZB-Chefin Christine Lagarde hartnäckig daran festgehalten, dass der Preisanstieg nur vorübergehend sei und es in diesem Jahr deshalb keine Zinserhöhung geben werde. Sie wird aber vermutlich doch noch dazu gezwungen werden, wenn die Inflation weiterhin stärker zulegt, als es die optimistischen Prognosen der EZB erwarten lassen. 2022 wird sich der Preisanstieg zwar tatsächlich verlangsamen, aus verschiedenen Gründen. Aber die Inflationsrate wird im Jahresdurchschnitt weit oberhalb des EZB-Ziels von rund 2 % bleiben. Ich rechne mit mindestens 3,5 % in Deutschland und im Euroraum. Das wird die EZB unter wachsenden Druck setzen, zumindest symbolisch aktiv zu werden.

Ist es denn überhaupt möglich, dass sich die EZB von der Zinspolitik der Fed abkoppeln kann?
Das gab es schon mal. Die Fed hat von Ende 2015 bis Ende 2018 die Leitzinsen von 0,25 % auf 2,5 % angehoben, während die EZB in dieser Zeit untätig geblieben ist. Geholfen hat es den Europäern nicht viel: Die US-Wirtschaft ist dennoch kräftiger gewachsen als die der Eurozone, auch wegen massiver Steuersenkungen der Regierung Trump. Das hat, zusammen mit dem Zinsvorsprung der USA, den Dollar zeitweise nach oben getrieben. Etwas Ähnliches beobachten wir auch jetzt: Seitdem klar ist, dass die Fed die Zügel deutlich anziehen wird, also seit dem Herbst 2021, gewinnt der Dollar spürbar gegenüber dem Euro.

Im EZB-Rat, der die Geldpolitik beschließt, haben die hoch verschuldeten und daher sehr zinssensiblen südlichen Euroländer eine starke Stimme. Wie weit bestimmt das die EZB-Geldpolitik?
Ich bin mir sicher, dass das der ausschlaggebende Faktor für die zögerliche Haltung der EZB ist. Wären die Zinsen nicht schon seit vielen Jahren nahe null und würde die EZB nicht einen großen Teil der Staatsanleihen aufkaufen, hätten einige EU-Staaten schon längst erhebliche Probleme, manche wären vermutlich pleite. Dann hätten wir eine ganze Reihe von Staatsschuldenkrisen wie Anfang des vorigen Jahrzehnts erlebt. Jetzt rächt es sich, dass die meisten Länder die Nullzinsphase nicht für einen nennenswerten Abbau der Neuverschuldung genutzt haben, geschweige denn der aufgelaufenen Staatsschulden. Die Coronahilfen der Regierungen haben die Defizite noch weiter nach oben geschaukelt. Da ist jede Zinserhöhung Gift. Und das, obwohl wir nur von einem kleinen Anstieg der Leitzinsen von 0 % auf bestenfalls 1 % bis Mitte/Ende 2023 reden.

Jens Weidmann, der ehemalige Bundesbankpräsident und Mitglied des EZB-Rats, ist stets für eine streng stabilitätsorientierte Geldpolitik eingetreten – allerdings ohne die notwendige Gefolgschaft im EZB-Rat. Wird sein Nachfolger auf dem Chefsessel der Bundesbank und im EZB-Rat, Joachim Nagel, in die Fußstapfen seines Vorgängers treten?
Ich weiß zu wenig über Nagel, um mir ein endgültiges Urteil erlauben zu können. Aber ich nehme an, dass er eher stromlinienförmig die Politik der EZB mittragen wird. Sonst hätte ihn die Bundesregierung kaum vorgeschlagen. Positiv ist, dass er als ehemaliger Vorstand die Bundesbank und ihre Stabilitätsorientierung recht gut kennt. Jens Weidmann war mit seiner Kritik an manchen Maßnahmen, insbesondere den Billionen schweren Käufen von Staatsanleihen nicht nur den Südländern im Euroraum ein Dorn im Auge. Bei Nagel müssen sie vermutlich nicht so viel Widerstand befürchten, aber ich hoffe, dass er sich angesichts der Inflationsgefahren wenigstens ab und zu als Warner betätigt.

Wie werden die Anleger in Frankfurt reagieren?
Die Anleger sehen das zwiespältig. Auf der einen Seite begrüßen sie das Beibehalten der ultralockeren Geldpolitik der EZB, weil dadurch viel Geld in Aktien fließt. Auf der anderen Seite befürchten sie, dass die EZB zu lange auf dem Gaspedal steht und die Inflationsgeschwindigkeit später nur noch mit rigiden Maßnahmen abbremsen kann. Und eines sollten wir nicht vergessen: Die ungeheure Liquiditätsfülle, die seit der Coronakrise geschaffen worden ist, bleibt ja erhalten, sie soll auch in den USA erst im späteren Jahresverlauf langsam abgebaut werden. Die Fed hat ihre Bilanzsumme in den letzten zwei Jahren von 4 Billionen $ auf fast 9 Billionen $ mehr als verdoppelt, die EZB hat sie auf über 8,5 Billionen € nahezu verdoppelt. Die Finanzmärkte schwimmen
deshalb noch lange in einem Meer von Liquidität. Das kommt Aktien zugute, weil sie einen gewissen Inflationsschutz bieten und fast die einzige Möglichkeit sind, positive reale Erträge zu erzielen.

Wo sehen Sie den Dax zum Jahresende 2022?
Er wird wahrscheinlich höher liegen als zurzeit, aber der Zuwachs dürfte geringer ausfallen als 2021. Angesichts der Vielzahl an Unwägbarkeiten, die uns 2022 erwarten, insbesondere die Wende in der Geldpolitik, halte ich es für unseriös, eine Punktprognose abzugeben. Niemand kann vorhersagen, wie stark sich die Zinserhöhungen, die geopolitischen Spannungen und die Pandemie auf Wirtschaft und Börsen auswirken werden. Die Notenbanker betreten Neuland, denn so gewaltige Liquiditätsmengen und so niedrige Zinsen gab es noch nie. Von hier aus ist der Weg zur Normalität mit vielen Unwägbarkeiten und unerwarteten Problemen gepflastert. Der Januar hat schon einen Vorgeschmack geliefert. Starke Kursschwankungen werden wohl das ganze Jahr über zur Normalität gehören.

Sie sehen dennoch zur Aktie für den renditebewussten Anleger keine Alternative – trotz aller Unsicherheiten?
Für Langfristanleger bleibt die Aktie unverzichtbar. An den Börsen wird es zwar 2022 unruhiger zugehen als 2021, aber die Grundbedingungen für einen anhaltenden Kursaufschwung sind intakt: Die Konjunktur dürfte nach dem schwachen ersten Quartal wieder an Schwung gewinnen. Die Auftragsbestände der Industrie bewegen sich auf Rekordniveau, das schafft Raum für eine starke Beschleunigung im Jahresverlauf. Das inflationäre Umfeld erleichtert es den Unternehmen, höhere Preise durchzusetzen und ihre Gewinne zu steigern. Die Ertragszuwächse dürften zwar viel geringer als im Ausnahmejahr 2021 ausfallen – aber ein Plus von rund 10 %, wie es für die USA und Europa erwartet wird, bildet eine gute Basis für weitere Kursgewinne. Zumal in Europa die Aktienmärkte seit dem jüngsten Kursrutsch wieder in die Nähe ihrer Durchschnittsbewertungen kommen. In den USA allerdings sind vor allem die Technologiewerte immer noch historisch hoch bewertet. Übrigens: Die Nachrichtenagentur Bloomberg hat ausgerechnet, dass die US-Börse in fast allen Perioden, in denen die Fed die Zinsen erhöht hat, angestiegen ist – allerdings nicht so stark wie in Zeiten fallender oder anhaltend tiefer Zinsen.

Wir haben aber noch das Gold, die Kryptowährungen oder Immobilien als Anlagemöglichkeiten?
Kryptowährungen sind, wie die EZB richtig festgestellt hat, keine Währungen. Ich halte nichts davon. Kryptos sind Spekulationsinstrumente, die mit steigenden Zinsen immer mehr an Glanz verlieren werden. Gold gilt zwar als Inflationsschutz, aber ich glaube nicht, dass 2022 große Preissprünge drin sind. Immobilien sind auf dem jetzigen Preisniveau vielfach überteuert und das weltweit. Steigende Zinsen sind da Gift. Zur Eigennutzung ist ein Haus oder eine Wohnung aber immer empfehlenswert.

Für welche Branchen und Titel sehen Sie noch gute Kurschancen?
Ich unterscheide lieber nach Anlagestilen. Und da rechne ich damit, dass sich die niedrig bewerteten Value-Aktien, die überwiegend konjunktursensibel sind, besser schlagen werden als die Growth- Aktien, die von den Nullzinsen am meisten profitiert haben. Dividendenstarke Aktien dürften ebenfalls favorisiert werden. Die Dividendenrenditen werden voraussichtlich deutlich steigen, und das ist bei hohen Inflationsraten ein Vorzug, der viele Anleger anlocken dürfte.

Wie beurteilen Sie die Titel des Bankensektors. Sollte es zu einer Zinswende in Europa kommen, dann dürfte für die Banken ja auch die bittere Zeit von Negativzinsen zu Ende gehen?
Die Anleger haben das schon zum Teil vorweggenommen. Höhere Zinsen helfen den Banken sicherlich, aber die Baustellen in anderen Bereichen lassen große Kurssprünge vorerst kaum zu.

Gibt es ausländische Börsen, an denen Sie für 2022 gute Chancensehen?
Ich kann mir vorstellen, dass die Emerging Markets aufholen werden, falls sich die geopolitischen Probleme nicht weiter zuspitzen. Sie leiden zwar unter höheren Dollarzinsen, aber sie profitieren vom Boom der Energie- und Rohstoffpreise sowie von einer Belebung der Weltwirtschaft, die ich im Lauf des Jahres erwarte.

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