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Einen so verlustreichen Jahresstart wie 2016 habe ich selten in meiner 45-jährigen Börsenkarriere erlebt. Heftige Kursverluste bei Aktien und Rohöl vermitteln das Bild, als stünde die Weltwirtschaft, ja, das ganze Finanzsystem vor dem Zusammenbruch. Je tiefer die Kurse sinken, desto düsterer werden die Prognosen und Warnungen.

Es zeigt sich wieder einmal: Die Kurse machen die Meinungen und nicht umgekehrt. Aber hat sich die Konjunktur, haben sich die fundamentalen Daten wirklich so dramatisch verschlechtert, um diesen fast panikartigen Schlussverkauf zu rechtfertigen?

Schauen wir uns die Angstmacher genauer an: China und der Ölpreis. Der erneute Kurssturz an den chinesischen Börsen ist vorwiegend technischer Natur und eine Spätfolge der Börsenblase von 2015. Sie platzte zwar im Sommer, aber nur teilweise, weil die Regierung das Entweichen der heißen Luft gebremst hatte. Das hat sich jetzt gerächt, weil zur Jahreswende neue Regeln eingeführt wurden, die den Börsenhandel bei höheren Verlusten stoppen sollen.

Das hat Ängste ausgelöst, Aktien nicht mehr loswerden zu können, mit der Folge, dass alle, die verkaufen wollten, dies in den ersten Börsenminuten getan haben, statt es auf den ganzen Tag zu verteilen, sodass die Kurse steil abstürzten. Die Regierung hat diese Handelsaussetzung wieder aufgehoben.

Das wird die Märkte zwar beruhigen, aber die Nervosität bleibt, weil die chinesischen Inlandsaktien, die vorwiegend von unerfahrenen Privatanlegern gehalten werden, immer noch teurer bewertet sind als die in Hongkong oder New York gelisteten China-Titel. Die wirtschaftlichen Daten sind zwar auch nicht zum Jubeln, weil Chinas Industrie schwächelt. Das ist aber in erster Linie ein strukturelles Problem. China befindet sich in einem Umstrukturierungsprozess, weg von der einseitigen Industrie- und Exportabhängigkeit und hin zu mehr Konsum und Dienstleistungen. Das ist ein natürlicher Reifungsprozess, der naturgemäß nicht ohne Anpassungsschocks verläuft.

Nun zum zweiten – vermeintlichen – Problemfall: Mit Verwunderung lese ich immer wieder, der Verfall der Ölpreise habe die Aktienmärkte auf Talfahrt geschickt. Wie bitte? Ist ein niedriger Ölpreis nicht wie ein Weltkonjunkturprogramm – ein Segen für Verbraucher und Industrie? Seit der Ölpreis ab Mitte 2014 um 75 Prozent abstürzte haben die Ölverbraucher im Durchschnitt etwa 2,5 Billionen US-Dollar pro Jahr an Kosten gespart. Von diesem Geldsegen profitiert über 80 Prozent der Weltbevölkerung. Natürlich gibt es Verlierer – die Ölstaaten. Es findet eine gigantische Vermögensumverteilung statt. Bisher floss das Geld von den Verbrauchern zu den Produzenten. Jetzt fließt es zurück.

Der Preissturz des Öls ist jedoch keine Folge einer schwachen Weltkonjunktur, sondern einer Überproduktion. Saudi Arabien führt am Ölmarkt einen Zweifrontenkrieg gegen die USA und den Iran.

Die Saudis wollen die mit der Fracking-Methode arbeitenden US-Ölproduzenten in die Knie zwingen. Gleichzeitig wollen sie den Erzfeind Iran daran hindern, dass er nach Aufhebung der Sanktionen hohe Öleinnahmen erzielen kann. Aber auf Dauer können die Saudis so nicht weitermachen, schon jetzt explodiert ihr Staatsdefizit. Das billige Öl wird den Verbrauch ankurbeln. Hinzu kommt, dass die Erschließung neuer Quellen gestoppt wurde. Bei einem geringeren Angebot und steigender Nachfrage kann sich die Relation umkehren und der Ölpreis kann rasant nach oben drehen. Auch deshalb, weil die Spekulationen auf fallende Preise ein Rekordniveau erreicht haben. Wenn dieser Dreh kommt, hat dies auch Konsequenzen für die Finanzmärkte, die Inflation und die Geldpolitik.

Konjunkturell geht es in Europa, den USA und Japan moderat aufwärts – die Ängste vor einer Weltwirtschaftskrise sind deshalb übertrieben. Die Bewertung der Aktienmärkte ist wieder recht günstig geworden. Am billigsten sind mit beim Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) europäische Aktien. Der Dax hat ein KGV von etwa 12. Etwas teurer ist der S&P-500 mit einem KGV von 15. Preisgünstig erscheinen Schwellenländer. Bei einem KGV von 10,5 sind viele Negativfaktoren eingepreist. Aktien sind auch dank ihrer hohen Dividenden attraktiv, die ein Vielfaches an Rendite gegenüber Staatsanleihen bieten.

Solange politische Unsicherheitsfaktoren bestehen, werden die Börsen zwar volatil bleiben, aber angesichts ihrer günstigen Bewertungen, ihrer attraktiven Dividenden und zukünftiger Inflationsgefahren sind Aktien unverzichtbar. So schlecht das Börsenjahr begann, so gut könnte es enden, ähnlich, wie 2009 als der Dax am Jahresanfang 24 Prozent verlor, danach um 57 Prozent stieg und das Jahr mit 20 Prozent Plus beendete. Dann könnte man zum diesjährigen Börsenstart sagen: „Die Lage ist hoffnungslos“ und am Jahresschluss den Satz vollenden mit „aber nicht ernst“.