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Das erste Halbjahr 2015, das stark begonnen hatte, geht dramatisch zu Ende. Es fing an mit einer stürmischen Hausse an Europas Börsen. Doch im April begann eine überfällige Korrektur. Die Hauptgründe waren die Furcht vor steigenden US-Zinsen und die Griechenland-Krise.

Doch kurz vor Ende des zweiten Halbjahrs entwickelte sich mit dem Abbruch der Verhandlungen und der Ankündigung eines Referendums am 5. Juli die Griechen-Krise zum Debakel.

Ein „Grexit“ ist nun im Bereich des Möglichen. Doch das Ausscheiden Griechenlands würde die Währungsunion nicht gefährden. Einen Crash wird es an den Börsen meines Erachtens nicht geben: Die Schutzmauern sind errichtet, die Ansteckungsgefahr ist gering und die faulen griechischen Staatsanleihen sind zu 90 Prozent bei der EZB. Die griechische Tragikomödie darf uns Anlegern nicht den Blick verstellen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass nicht Deflation, sondern Inflation droht. Der 17. April, als 10-jährige Bundesanleihen nur noch mit 0,05 Prozent rentierten, dürfte das Ende eines 33-jährigen Zinsabwärtstrends markiert haben. In den USA hat die Teuerung auf 1,7 Prozent angezogen. Auch in Deutschland  stieg sie an und liegt bei 0,7 Prozent. Das sind noch längst keine beunruhigenden Zahlen, aber die Tendenz geht eindeutig in Richtung mehr Inflation. Bedenkt man die seit 2008 ultralockere Null-Zinspolitik und die astronomische Geldschwemme, ist die höhere Inflation unausweichlich.

Das zweite Halbjahr beginnt damit trotz Griechen-Krise in einem Zustand von mehr Normalität: Der Dollar hat einen Teil seiner starken Gewinne abgegeben, der Ölpreis sich weit von seinem Tiefstand entfernt. Die langfristigen Zinsen sind in den USA von 1,6 Prozent auf knapp 2,5 Prozent gestiegen, in Deutschland auf 0,8 Prozent. Institutionelle Anleger, die das Hirngespinst von der Deflation glaubten, haben in wenigen Wochen mit Anleihen herbe Kursverluste erlitten. Die Geldpolitik bleibt aber sehr locker. In der Euro-Zone wird mit dem Anleihenkaufprogramm monatlich 60 Milliarden Euro neues Geld gedruckt.

In den USA hat Fed-Chefin Janet Yellen die erste Zinserhöhung verschoben, sie möchte nicht das Risiko eingehen, mit einer zu frühen Zinsanhebung den Konjunkturaufschwung zu bremsen. Diese riesige Geldflut und die extrem niedrigen Zinsen haben den Effekt, dass sich die Kreditaufnahme belebt, die Investitionen zunehmen und die Vermögenswerte – Aktien, Immobilien, Rohstoffe – steigen. Das steigert durch den Wohlstandseffekt auch den Konsum.

Die Weltkonjunktur entwickelt sich deshalb gleichmäßiger. Die tiefen Zinsen, der billige Ölpreis und der Beschäftigungsaufbau sind die Wachstumstreiber. Euro-Land und die EU überraschen positiv – trotz Griechenlandkrise. In China geht es dank niedriger Zinsen, staatlicher Investitionen und dem Abbau von Regulierungen besser voran. Weltweit ist ein moderates Wirtschaftswachstum ideal für die Börse, weil die Realwirtschaft nicht zu viel Kapital beansprucht und die Märkte weiter vom Überfluss an Liquidität angetrieben werden.

Deutlich steigende Unternehmensgewinne in Europa und eine starke Geldmengenexpansion weltweit, sowie die nach der Börsenkorrektur verbesserte Markttechnik bieten speziell für Europas Börsen günstige Voraussetzungen im zweiten Halbjahr. Auch in der Bewertung, gemessen am Kurs-/Gewinn-Verhältnis, ist Europa recht günstig – vor den USA, Japan und China.

Doch es gibt neben dem Flüchtlingsdrama sowie den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten noch zwei potenzielle Störfälle: Die erste Zinserhöhung in den USA und das Dauerärgernis Griechenland. Die Anhebung der US-Zinsen ist seit Langem im Gespräch. Ein Ereignis, das so lange vorher angekündigt wird, verliert seinen Schrecken. Im Übrigen hat der erste Zinsschritt den Börsen nie geschadet. Kritisch wird es erst, wenn die Zinsen in den Bereich von fünf bis sechs Prozent kommen.

Ungeachtet der Griechenlandkrise, die uns auch im zweiten Halbjahr begleiten dürfte, wird die Börsenhausse dank günstiger wirtschaftlicher und monetärer Voraussetzungen weitergehen. Wahrscheinlich ist, dass die Börsen sich zu neuen Höchstkursen aufschwingen. Die mangelnden Anlagealternativen, die überquellenden Kapitalmärkte und die unterinvestierten Anleger bieten Treibstoff für Kurs-Höhenflüge. Ein Frühindikator sind die zunehmenden Börsengänge und Firmenübernahmen weltweit. Außer in China herrscht nirgends Euphorie. Vielmehr überwiegt Skepsis. Allerdings ist mit hoher Volatilität und Turbulenzen zu rechnen. Daher empfiehlt es sich, sein Depot breit international zu diversifizieren und dividendenstarke Aktien zu bevorzugen sowie Nebenwerte und Schwellenländeraktien beizumischen. Die schon fast ein Vierteljahr anhaltende Korrektur, die wegen Griechenland noch andauern wird, bietet bald günstige Einstiegsmöglichkeiten.